Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Altfall. Feststellung der unangemessenen Dauer trotz fehlender Unverzüglichkeit der Verzögerungsrüge. unverschuldeter Rechtsirrtum. sorgfältige Prozessführung. Rechtmäßigkeit des Erfordernisses einer Verzögerungsrüge. Klageerhebung vor Ablauf von 6 Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge. Unzulässigkeit der Klage. Heilung des Verfahrensmangels durch Zuwarten. Beurteilung der unangemessenen Verfahrensdauer. Umstände des Einzelfalls. Zeiten des Vorverfahrens. sozialgerichtliches Verfahren
Orientierungssatz
1. Das Fehlen einer unverzüglich erhobenen Verzögerungsrüge gemäß Art 23 S 2 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (juris: ÜberlVfRSchG) schließt zwar einen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs 1 GVG aus, nicht aber die im Ermessen des Gerichts stehende Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs 4 S 3 Halbs 2 GVG.
2. Das Erfordernis einer unverzüglichen Rüge ist nicht unverhältnismäßig und verstößt auch nicht gegen die MRK (vgl EGMR vom 29.5.2012 - 53126/07 = NVwZ 2013, 47).
3. Der Entschädigungskläger kann sich als juristischer Laie im Hinblick auf das Unterlassen der unverzüglichen Erhebung einer Verzögerungsrüge nach Art 23 S 2 ÜberlVfRSchG nicht auf einen unverschuldeten Rechtsirrtum berufen, wenn er besonderen Anlass hatte, sich zur sorgfältigen Prozessführung professioneller (Beratungs-)Hilfe - etwa eines Rechtsanwalts - zu bedienen.
4. Wird die Entschädigungsklage vor Ablauf von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben, ist die Klage zunächst unzulässig. Eine Heilung dieses Mangels ist aber durch Zuwarten bis zum Verstreichen der Sechsmonatsfrist möglich (vgl LSG Erfurt vom 10.7.2013 - L 12 SF 1138/12).
5. Zeiten des Vorverfahrens sind bei der Bemessung der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens nach § 198 GVG nicht zu berücksichtigen.
6. Für die Beurteilung der unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs 1 GVG sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend (vgl BSG vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL = SozR 4-1720 § 198 Nr 1 und vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 2/12 KL sowie BVerwG vom 11.7.2013 - 5 C 23.12 D = DVBl 2013, 1388).
Normenkette
GVG §§ 198, 201 Abs. 3; ÜberlVfRSchG Art. 23 S. 2; SGG §§ 88, 106 Abs. 3 Nr. 3, § 202; BGB §§ 121, 276; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3; MRK Art. 6 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 7 KA 3195/08 vor dem Sozialgericht Gotha unangemessen lang gedauert hat.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird endgültig auf 4.700 Euro festgesetzt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über Schadensersatz wegen unangemessener Dauer des Verfahrens S 2 KA 3195/08 vor dem Sozialgericht Gotha.
Die Klägerin ist niedergelassene Ärztin in B.... Seit Ende der neunziger Jahre strengt sie zahlreiche Klagen gegen die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen (KVT) an. Hauptstreitpunkte ist eine zusätzliche Vergütung wegen der Betreuung von Patienten einer zeitweise geschlossenen Nachbarpraxis, der Mehraufwand wegen der Behandlung zahlreicher Rentner, eine Erweiterung des Praxisbudgets und Fragen über den ärztlichen Notdienst.
Mit der Klage S 2 KA 3195/08 griff die Klägerin einen Bescheid der KVT vom 16. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2008 an, mit dem ein Antrag auf Fördermaßnahmen in unterversorgten Gebieten abgelehnt wurde.
Nach Eingang der Klage am 7. Juli 2008 forderte der ehemalige Vorsitzende die KVT zur Stellungnahme auf und bat um Aktenübersendung. Die Akten der KVT gingen am 18. August 2008 ein und die Klageerwiderung erst am 5. Februar 2009. Mit Verfügung vom 18. Februar 2009 leitete der Vorsitzende die Klageerwiderung zur etwaigen Stellungnahme an die Klägerin weiter und verfügte Wiedervorlage auf den 1. Juni 2009. Auf die Klageerwiderung antwortete die Klägerin mit einem umfangreichen Schriftsatz vom 28. Februar 2009, der am 4. März 2009 bei Gericht einging. Mit Verfügung vom gleichen Tag übermittelte der Vorsitzenden den Schriftsatz an die KVT zur Kenntnis bei Beibehaltung des Wiedervorlagetermins. Am 18. August 2009 setzte der Vorsitzende Termin zur Wiedervorlage auf den 1. November 2009.
Im Hinblick auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2009 - 1 BvR 1304/09 erklärte die Klägerin den ehemaligen Vorsitzenden mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2009 - bei Gericht am 12. Oktober 2009 eingegangen - für befangen. Der Vorsitzende gab am 13. Oktober 2009 eine Stellungnahme ab und leitete den Aktenvorgang an das damals für Befangenheitsanträge zuständige Thüringer Landessozialgericht weiter. Dieses lehnte den Antrag nach vorherigen Hinweisschreiben an die Klägerin mit Beschluss vom 7. Januar 2010 - L 11 SF 47/09 ab.
Nach Aktenrücklauf im Februar 2010 verfügt...