Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Verkehrssicherungspflicht auf innerörtlichen Gehwegen bei überwiegendem Eigenverschulden
Leitsatz (amtlich)
1. Die Verpflichtung, innerörtliche Geh- und Überwege für Fußgänger von Schnee und Eis zu räumen, besteht nicht uneingeschränkt; sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit, orientiert an der Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen. Maßgeblich abzustellen ist auf die Sicherheitserwartungen des jeweiligen Fußgängers, d.h. ob dieser bei vernünftiger Erwartung mit der Sicherung des Gehweges rechnen durfte oder nicht. Dabei bestehen grundsätzlich höhere Anforderungen als im (sonstigen) Straßenverkehr. Jedoch besteht auch hier eine Beschränkung auf "verkehrswichtige" Bereiche. Dieser Begriff ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem der Verkehrswichtigkeit bei Fahrbahnen. Aus dem Kreis der zu räumenden/bestreuenden Gehflächen sind vielmehr nur die tatsächlich entbehrlichen Wege, für die ein echtes, jederzeit zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis besteht, herauszunehmen. Andererseits muss grundsätzlich gewährleistet sein, dass auch zu Fuß jede Wohnung - auch von älteren und gebrechlichen Menschen - erreicht werden kann.
2. Ist allerdings bei nur sehr geringfügigem Verkehrsbedürfnis dem Geschädigten seine eigene Unachtsamkeit als maßgeblicher Verursachungs-beitrag vorzuwerfen, kann im Einzelfall dem Geschädigten die haftungs-rechtliche Verantwortung für das Schadensereignis allein zukommen mit der Folge, dass dahinter eine Pflichtverletzung des Verkehrssicherungspflichtigen völlig zurücktritt. Für die Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB kommt es daher entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers (des Sicherungspflichtigen) oder das des Geschädigten selbst den Schadens-eintritt nach den konkreten Umständen des Einzelfalls in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Kommt dabei dem Verhalten des Geschädigten eine überragende Bedeutung für den Schadenseintritt zu, hat er u.U. auch allein für den (seinen) Schaden aufzukommen.
Normenkette
BGB § 254 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Meiningen (Urteil vom 15.06.2010; Aktenzeichen 3 O 1316/09) |
Tenor
Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Meiningen vom 15.6.2010 - 3 O 1316/09 (486) - durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Die Klägerin erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 11.1.2011.
Gründe
Die Berufung (der Klägerin) hat nach einstimmiger Auffassung des Senats keine Aussicht auf Erfolg. Der Rechtssache kommt auch keine grundsätzliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus zu; erforderlich ist auch keine Entscheidung des Senats im Urteilsverfahren zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 - 3 ZPO).
Im Ergebnis zu Recht hat das LG die Schadensersatzklage der Klägerin wegen ihres Sturzes am 23.01.2006 in Folge von Glätte abgewiesen. Ob dem LG im Einzelnen beizupflichten ist, dass im gegebenen Fall an der behaupteten Unfallstelle keine Räum- und Streupflicht bestanden hat, kann letztlich dahingestellt bleiben (das LG hat hierzu den Klägervortrag als wahr unterstellt, aber keinen Beweis erhoben). In jedem Fall scheidet eine Haftung der Beklagten (auch) aus dem Gesichtspunkt des überwiegenden Mit- bzw. Alleinverschuldens der Klägerin aus.
Der erkennende Senat hat im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung für die aus § 49 Abs. 3 ThürStrG abzuleitende Räum- und Streupflicht auf Gehwegen im innerörtlichen Bereich folgende Grundsätze aufgestellt (vgl. dazu grundlegend OLG Jena v. 9.3.2005, juris mit weiteren Hinweisen; OLG Jena Beschl. v. 23.12.2009 - 4 U 779/09):
Die Verpflichtung, innerörtliche Gehwege und Überwege für Fußgänger von Schnee und Eis zu räumen, besteht zunächst nicht uneingeschränkt; sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, ausgehend von der (jeweiligen) Leistungsfähigkeit der Gemeinde. Schon hieraus folgt - wie bei der Verkehrssicherungspflicht ganz allgemein - dass maßgeblich darauf abzustellen ist, ob die Fußgänger bei vernünftiger Sicherheitserwartung mit der Sicherung des Gehwegs rechnen durften oder nicht (so auch OLG Hamm OLGReport Hamm 2004, 38, 39). Zwar bestehen bei der Sicherungserwartung des Fußgängerverkehrs höhere - strengere - Anforderungen als im Straßenverkehr. Jedoch folgt eine Beschränkung auch im Bereich der Gehwege auf "verkehrswichtige" Bereiche. Dieser Begriff ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem der Verkehrswichtigkeit bei Fahrbahnen, was oft verkannt wird. Aus dem Kreis der zu bestreuenden Gehflächen sind vielmehr lediglich die tatsächlich entbehrlichen Wege, für die ein echtes, jederzeit zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis nicht besteht, herauszunehmen. Andererseits hat der Senat ausgeführt, dass grundsätzlich gewährleistet sein muss, dass wenigstens zu Fuß jede Wohnung - auch von älteren und gebrechlichen Menschen - einigermaßen sicher erreicht werden kann ...