Leitsatz (amtlich)
1. Ein Pkw-Fahrer, der seinem Vordermann auf der linken Fahrspur einer dreispurigen Autobahn ohne Höchstgeschwindigkeitsbegrenzung mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h und im Abstand "halber Tacho" folgt, trägt eine Mithaftung für den ihm entstandenen Sachschaden aus erhöhter Betriebsgefahr (hier 30 %), wenn der Vordermann plötzlich ausweicht und der Hintermann sodann auf einen auf der Fahrbahn liegenden Lkw-Reifen auffährt (Lkw-Fahrer bzw. -Halter trägt 70 % Haftungsanteil).
2. Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h führt hier nicht zu einer Alleinhaftung des Hintermanns.
3. Das Sichtfahrgebot aus § 3 Abs. 1 S. 4 StVO verlangt in der Zeitphase bis zum Ausweichen des Vordermanns nicht, dass der Hintermann seine Fahrweise auch auf solche Hindernisse einrichtet, die sich im Fahrbahnbereich vor dem Vordermann befinden können. Bis zum Ausweichen genügt vielmehr die Einhaltung des gem. § 4 Abs. 1 S. 1 StVO erforderlichen Sicherheitsabstands (Anschluss an: BGH v. 9.12.1986 - VI ZR 138/85, MDR 1987, 488 = NJW 1987, 1075 ff.).
4. Ab dem Ausweichen gilt zwar das Sichtfahrgebot (Anschluss an: BGH BGH v. 9.12.1986 - VI ZR 138/85, MDR 1987, 488 = NJW 1987, 1075 ff.), aber für ein Mitverschulden des Hintermanns beim Auffahren auf den auf der Fahrbahn liegenden Lkw-Reifen spricht insoweit kein Anscheinsbeweis (hierzu in diesem Zusammenhang: BGH v. 18.10.1988 - VI ZR 223/87, MDR 1989, 150 = VersR 1989, 54 ff.).
Verfahrensgang
AG Gotha (Urteil vom 08.12.2004; Aktenzeichen 2 C 1035/04) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des AG Gotha vom 8.12.2004 - 2 C 1035/04, wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagten haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Der Kläger befuhr am 1.8.2003 gegen 17.30 Uhr mit seinem Pkw die linke Fahrspur der dreispurigen Autobahn A 4 i.H.v. Waltershausen mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 km/h. Sein Abstand zum Vordermann entsprach dem "halben Tacho". Während der Vordermann einem auf der Fahrbahn liegenden Lkw-Reifen noch ausweichen konnte, gelang dies dem Kläger nicht mehr.
Von der Darstellung des übrigen Tatbestandes wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
II. Die Berufung hat keinen Erfolg.
Sie ist zwar zulässig, insb. form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 511 Abs. 1, 2 Nr. 1, 517, 519, 520 ZPO).
Die Zuständigkeit des OLG für die gegen ein Urteil eines AG eingelegte Berufung ergibt sich aus § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG, da eine der Parteien ihren allgemeinen Gerichtsstand bei Rechtshängigkeit im Ausland hatte.
Die Berufung ist in der Sache unbegründet.
Denn das AG hat der Klage im erkannten Umfang zu Recht stattgegeben. Die hiergegen gerichteten Berufungsangriffe haben keinen Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig. Soweit die Klage nicht an die Beklagte zu 1) im Ausland zugestellt worden ist, genügt die Zustellung an die Beklagte zu 2). Denn diese ist aufgrund der Grünen Versicherungskarte zustellungsbevollmächtigt (Bauer, Die Kraftfahrtversicherung, 5. Aufl. 2002, Rz. 1009; Schmitt, VersR 1970, 497 [500]).
2. Das AG hat die Haftung zu Recht zu 30 % dem Kläger und zu 70 % dem Lkw-Fahrer und dessen Versicherung auferlegt. Hinsichtlich der einschlägigen Anspruchsgrundlagen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
a) Die vom Kläger gefahrene Geschwindigkeit von 200 km/h führt nicht zu einer Alleinhaftung des Klägers. Die Rechtsprechung erhöht bei Überschreitungen der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h vielmehr die Betriebsgefahr (Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 8. Aufl. 2004, Rz. 147). So heißt es bei Grüneberg, (Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 8. Aufl. 2004, Rz. 147):
"Der überwiegende Teil der Rechtsprechung nimmt aber in Übereinstimmung mit dem Urteil des BGH vom 17.3.1992 (BGH v. 17.3.1992 - VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337 = NJW 1992, 1684 = NZV 1992, 229 = VersR 1992, 714 = MDR 1992, 647) eine Mithaftung des Auffahrenden in Höhe der normalen Betriebsgefahr an, wenn dieser - vor allem bei Dunkelheit - mit einer höheren Geschwindigkeit als mit der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h gefahren ist. Eine höhere Mithaftung des Auffahrenden kommt in Betracht, wenn er die Geschwindigkeit trotz Erkennens des Spurwechsels nicht herabgesetzt oder fehlerhaft reagiert hat."
G. führt folgende Fälle aus der Rechtsprechung beim Fahren mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 km/h an, wobei er die Haftungsanteile (in Klammer gesetzt) angibt:
- Auffahrunfall auf BAB zw. Pkw (30 %), der nachts auf der Überholspur mit ca. 200 km/h mehrere Fahrzeuge überholt, und einem plötzlich von der Normalspur zum Überholen ausscherenden Kfz (70 %) (OLG Düsseldorf v. 2.4.1981 - 12 U 129/80, ZfS 1981, 161)
- Kollision auf BAB zw. Kfz (50 %), das aus ungeklärten Gründen nicht ausschließlich auf der rechten Fahrbahn, sondern nach links versetzt auf beiden Fahrspuren fährt, und einem rückwärtig auf der Überholspur mit 200 km/h nahenden Pkw (50 %) (OLG Frankfur...