Rz. 71a
In extremen Ausnahmefällen, in denen der Arbeitnehmer in unfairer Weise zum Abschluss eines Aufhebungsvertrags gedrängt wird, kommt ein Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns vor. Im Fall eines Verstoßes gegen das Gebot fairen Verhandelns ist der Aufhebungsvertrag nach der Rechtsprechung des BAG unwirksam. Der Arbeitnehmer ist dann im Wege der Naturalrestitution nach § 280 Abs. 1 i.V.m. § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB so zu stellen, wie er ohne das Zustandekommen des Vertrags stünde. Das bedeutet, dass er grundsätzlich einen Anspruch auf Befreiung von dem abgeschlossenen Vertrag hat, was im Ergebnis dazu führt, dass der Aufhebungsvertrag nach § 249 Abs. 1 BGB rückgängig gemacht wird.
Entgegen kritischer Stimmen in der Literatur, die dem Arbeitnehmer bei einer Verletzung des Gebots fairen Verhandelns lediglich einen Anspruch auf Neuabschluss eines Arbeitsvertrags zu den vorigen Bedingungen zugestehen, überzeugt die Konzeption des BAG jedenfalls im Zusammenhang mit dem Aufhebungsvertrag. Der Arbeitnehmer muss nicht erst auf Abgabe einer Willenserklärung zum Neuabschluss des Arbeitsvertrags (vgl. § 894 ZPO) klagen, sondern kann direkt die Feststellung beantragen, dass das Arbeitsverhältnis durch den (unwirksamen) Aufhebungsvertrag nicht beendet wurde. Gleichzeitig kann er den allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend machen.
Rz. 71b
Nach dem BAG ist das Gebot fairen Verhandelns eine durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründete Nebenpflicht i.S.d. § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB. Nach § 241 Abs. 2 BGB könne das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil "zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils" verpflichten. Nach dem Willen des Gesetzgebers schütze § 241 Abs. 2 BGB nicht nur die Rechte und Rechtsgüter (i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB), sondern mit den "Interessen" ausdrücklich auch Vermögensinteressen und die Entscheidungsfreiheit des anderen Vertragspartners. Vor diesem Hintergrund besteht nach dem BAG ein Gebot fairen Verhandelns, das nicht den Inhalt des Vertrags, sondern den Weg zum Vertragsschluss schützt und sich dadurch von der Sittenwidrigkeitskontrolle des § 138 BGB unterscheidet. Der Inhalt der Rücksichtnahmepflichten ist stets anhand der Umstände des Einzelfalles zu bestimmen ist.
Rz. 71c
Nach dem BAG wird gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen, wenn die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners in zu missbilligender Weise beeinflusst wird. Eine solche zu missbilligende Beeinflussung liege vor, wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt werde, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwere oder sogar unmöglich mache.
Beispiele
Das BAG geht davon aus, dass das Gebot fairen Verhandelns im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Aufhebungsvertrags verletzt sein kann, wenn der Arbeitgeber
- besonders unangenehme Rahmenbedingungen schafft, die den Arbeitnehmer erheblich ablenken oder sogar den Fluchtinstinkt wecken,
- eine objektiv erkennbare körperliche oder psychische Schwäche oder unzureichende Sprachkenntnisse ausnutzt,
- ein Überraschungsmoment nutzt (Überrumpelung) oder
- den Arbeitnehmer in eine belastende Verhandlungssituation bringt, in der dieser bei objektivierter Betrachtung davon ausgehen muss, dass ihm nur noch eine Option – nämlich die der Unterschrift unter den Aufhebungsvertrag – verbleibt, um sich der Situation zu entziehen.
Kein Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns liegt nach dem BAG hingegen vor, wenn der Arbeitgeber
- dem Arbeitnehmer weder seine Absicht, ihm eine Aufhebungsvereinbarung zu unterbreiten, im Voraus ankündigt, noch ein Rücktritts- oder Widerrufsrecht einräumt,
- an dem Verhalten des Arbeitnehmers Kritik äußert und der Arbeitnehmer daraufhin betroffen reagiert,
- es unterlässt, ohne Vorliegen objektiver Anhaltspunkte von sich aus besondere Vorkehrungen im Hinblick auf die freie Entscheidungsfähigkeit des Arbeitnehmers zu treffen und diesen z.B. nach einer etwaigen Medikamenteneinnahme zu befragen,
- eine Drohung i.S.v. § 123 Abs. 1 Var. 2 BGB ausspricht (z.B. Drohung mit einer Kündigung oder Strafanzeige), die mangels Widerrechtlichkeit nicht zur Anfechtbarkeit des Vertrags führt, da es sonst zu Wertungswidersprüchen kommt, oder
- sein Aufhebungsvertragsangebot entsprechend § 147 Abs. 1 S. 1 BGB nur zur sofortigen Annahme unterbreitet, der Arbeitnehmer über die Annahme daher sofort entscheiden muss und weder eine Bedenkzeit hat noch den erbetenen Rechtsrat einholen kann.