Cesare Vannucchi, Dr. Brigitta Liebscher
1.5.5.1 Allgemeines
Rz. 290
Die Kündigung muss geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne (d. h. angemessen) sein. Das gilt für jede Beendigungskündigung durch den Arbeitgeber, "gleichgültig, ob sie auf betriebs-, personen- oder verhaltensbedingte Gründe gestützt ist, und gleichgültig, ob sie als ordentliche oder außerordentliche Kündigung ausgesprochen wird." Diese Voraussetzung wird aus der Formulierung des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG abgeleitet, wonach die Kündigungsgründe die Kündigung "bedingen" müssen, d. h. sie müssen die Kündigung erforderlich machen.
Rz. 291
Die Kündigung ist geeignet, Störungen des Arbeitsverhältnisses zu beenden, da sie das Arbeitsverhältnis auflöst.
Rz. 292
Sie ist als "ultima ratio" erforderlich, wenn es keine milderen Mittel gibt, um dieses Ziel zu erreichen.
Beispiele
Als mildere Mittel kommen eine Abmahnung, die Versetzung, der Abbau von Überstunden, die einverständliche Änderung des Arbeitsvertrags und die Änderungskündigung in Betracht. Eine Beendigungskündigung darf nicht ausgesprochen werden, wenn es eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer gibt.
Die lange andauernde Erkrankung eines Arbeitnehmers kann durch Mehrarbeit der Kollegen oder durch die Einstellung einer Aushilfe überbrückt werden.
Möglicherweise kommt auch die berufliche Weiterbildung als milderes Mittel zur Kündigung in Betracht.
Rz. 293
Hat der Arbeitgeber einen Kodex aufgestellt, wie er bei bestimmten Pflichtverstößen zu reagieren gedenkt (z. B. klärendes Gespräch bei Verstoß gegen Loyalitätsobliegenheiten, Nachschulung des Busfahrers bei Verkehrsverstößen), ist er an dieses Verfahren gebunden und kann erst danach kündigen.
Rz. 294
Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III soll der Arbeitgeber vorrangig durch betriebliche Maßnahmen (z. B. flexible Arbeitszeiten) die Inanspruchnahme von Leistungen der Arbeitsförderung (z. B. Kurzarbeitergeld) sowie Entlassungen von Arbeitnehmern vermeiden.
Eine über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausreichende Bedeutung kommt dieser Vorschrift indes nicht zu.
Rz. 295
Der Arbeitgeber muss auf das mildere Mittel nur zurückgreifen, sofern es ihm rechtlich und tatsächlich möglich ist. Dem können gesetzliche Regelungen, insbesondere Rechte Dritter, entgegenstehen.
So braucht der Arbeitgeber für eine Versetzung nach § 99 BetrVG die Zustimmung des Betriebsrats. Daneben ist der Betriebsrat nach § 102 BetrVG anzuhören, wenn eine Änderungskündigung erforderlich ist.
1.5.5.2 Anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit
Rz. 296
Eine Beendigungskündigung scheidet nach § 1 Abs. 2 Sätze 2 und 3 KSchG aus, wenn der Arbeitnehmer auf seinem bisherigen Arbeitsplatz zu anderen Bedingungen oder auf einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb oder Unternehmen weiterbeschäftigt werden kann.
Rz. 297
Die Regelung konkretisiert den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie hat einen größeren Anwendungsbereich, als der Wortlaut vermuten lässt: Zum einen kommt es nicht darauf an, ob der Betriebs- oder Personalrat Widerspruch bzw. Einwendungen erhoben hat. Andernfalls würde die individualrechtliche Position des Arbeitnehmers wesentlich verschlechtert. Zum anderen ist die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit nicht nur bei der betriebsbedingten Kündigung zu prüfen, sondern auch bei der personen- und verhaltensbedingten Kündigung.
Die Kündigung ist unwirksam, wenn der Arbeitnehmer weiterbeschäftigt werden kann, weil im Betrieb oder Unternehmen (bzw. in der Dienststelle)
- ein vergleichbarer Arbeitsplatz frei ist oder
- ein Arbeitsplatz mit anderen Arbeitsbedingungen frei ist, mit dem der Arbeitnehmer einverstanden ist und
- für den er die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzt oder
- für den er sich durch Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen qualifizieren kann.
Rz. 298
Zunächst ist zu prüfen, ob ein Arbeitsplatz frei ist. Ob eine Stelle für einen freien Mitarbeiter frei ist, ist ebenso unbeachtlich wie die Frage, ob der Arbeitnehmer zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 74 SGB V beschäftigt werden kann. Der Arbeitsplatz ist als frei anzusehen, wenn er
- bei Zugang der Kündigung unbesetzt ist,
- bis zum Ablauf der Kündigungsfrist mit hinreichender Sicherheit frei wird, etwa weil ein anderer Arbeitnehmer ausscheidet,
- zu einem absehbaren Zeitpunkt nach Ablauf der Kündigungsfrist frei wird (und zwar nicht nur aufgrund der unternehmensüblichen Personalfluktuation) und dem Arbeitgeber die Überbrückung dieses Zeitraums zumutbar ist. Zumutbar ist ein Zeitraum, den ein anderer Stellenbewerber zur Einarbeitung benötigen würde, wobei je nach den Umständen eine Probezeitvereinbarung als Anhaltspunkt für die Bemessung einer Einarbeitungszeit herangezogen werden kann.
Ob und für wie lange ein z. B. aus Krankheitsgründ...