Rz. 572

Ein Arbeitnehmer kann sich aufgrund einer persönlichen Glaubens- oder Gewissensentscheidung daran gehindert sehen, seine Arbeitsleistung zu erbringen oder einzelnen Arbeitsanweisungen Folge zu leisten. Eine solche Entscheidung kann darin bestehen, bestimmte Tätigkeiten aus religiösen Gründen überhaupt nicht zu verrichten, an bestimmten religiösen Festtagen nicht zu arbeiten oder wegen feststehender Gebetszeiten Arbeitsunterbrechungen einlegen zu müssen. Es kann sich auch darum handeln, nicht an der Fertigung militärisch nutzbarer Waffen oder Technologien mitwirken zu wollen.

Da Gewissensentscheidungen nicht nach einem objektivierbaren Maßstab behandelt werden können, kommt es allein auf den subjektiven Gewissenskonflikt an, zu dem der Arbeitnehmer vorzutragen hat. Die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung ist darzulegen, aber die Relevanz und Gewichtigkeit der Gewissensbildung unterliegen nicht der gerichtlichen Kontrolle. Eine Gewissensentscheidung ist jede ernste sittliche, also an den Kategorien von "gut" und "böse" orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Die Gewissensfreiheit überschneidet sich mit der Glaubensfreiheit insoweit, als sie auch das religiös fundierte Gewissen schützt.

Kein Leistungsverweigerungsrecht hat der Arbeitnehmer allerdings, wenn er bereits bei Abschluss des Arbeitsverhältnisses positiv wusste, dass er die vertraglich eingegangene Verpflichtung wegen seiner Glaubensüberzeugung nicht wird erfüllen können.[1] Bei Weigerung zur Leistung der zugewiesenen Tätigkeit, die dann trotz des offenbarten Gewissenskonflikts billigem Ermessen entspricht, kann wegen Pflichtverletzung eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht kommen.[2]

 

Rz. 573

Die personenbedingte Rechtfertigung einer Kündigung kommt in Betracht, wenn der Arbeitnehmer aus Gewissensgründen die Fähigkeit oder Eignung zur Erfüllung der geschuldeten Arbeitsleistung verloren hat und die Erreichung des Vertragszwecks durch diesen Umstand nicht nur vorübergehend zumindest teilweise unmöglich ist.

Dabei ist stets zu beachten, dass religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen nach Art. 1, 2 der Richtlinie 2000/78/EG grds. nicht Anlass für eine Benachteiligung des Arbeitnehmers sein dürfen. Daher liegt eine kündigungsrelevante Vertragsstörung nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer aufgrund seiner Überzeugungen wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen nicht (mehr) erfüllen kann (Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG).

 

Rz. 574

Soweit eine Änderung der Arbeitsbedingungen möglich ist, hat der Arbeitgeber die offenbarte Gewissensentscheidung des Arbeitnehmers, die zu dem Konflikt führt, im Rahmen billigen Ermessens nach § 315 BGB, § 106 Satz 1 GewO zu berücksichtigen. Kann der Arbeitnehmer unter Vermeidung des Konflikts nicht mehr sinnvoll eingesetzt werden, so ist eine Kündigung aus personenbedingten Gründen zulässig.[3]

 

Rz. 575

Das sichtbare Tragen religiöser Symbole aufgrund religiöser Überzeugung kann eine Kündigung personenbedingt rechtfertigen, wenn es dadurch zu konkreten Störungen der unternehmerischen Betätigung kommt, die für den Arbeitgeber nicht zumutbar sind.

Das BAG hatte diese Frage unter anderem für den Fall einer Verkäuferin, die ein Kopftuch aus islamischer Glaubensüberzeugung tragen wollte, zu entscheiden.[4] In einem solchen Fall ist, wie bei allen personenbedingten Kündigungsgründen, zu prüfen, ob dem Arbeitnehmer die Fähigkeit oder die Eignung, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, im Kündigungszeitpunkt fehlt oder ob sie erheblich eingeschränkt ist und ob mit ihrer baldigen Wiederherstellung nicht gerechnet werden kann. Zusätzlich muss eine konkrete Störung des Arbeitsverhältnisses vorliegen, die nicht durch eine Umsetzung des Arbeitnehmers zu beseitigen ist. Schließlich ist im Rahmen einer Interessenabwägung zu fragen, ob der Arbeitgeber die Störung billigerweise noch hinnehmen muss oder ob die Kündigung bei verständiger Würdigung und Abwägung der beiderseitigen Interessen billigenswert und angemessen erscheint.[5] Bei der Interessenabwägung ist auch zu berücksichtigen, ob der Arbeitnehmer von Vertragsbeginn an wusste, welche Tätigkeiten von ihm verlangt werden oder ob sich der Gewissenskonflikt erst durch eine Änderung der Tätigkeit entwickelt hat.[6]

 

Rz. 576

Die vom Arbeitgeber geltend gemachte Störung ist von diesem konkret darzulegen. Wegen der Bedeutung der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) genügt es insoweit nicht, dass der Arbeitgeber auf bloße Befürchtungen negativer Reaktionen von Kunden verweist.[7]

 

Rz. 577

Im öffentlichen Dienst bedarf es einer gesetzlichen Grundlage, wenn das Tragen eines Kopftuches als Ausdruck einer Glaubensüberzeugung untersagt werden soll, etwa bei Lehrerinnen.[8] Allerdings weist das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) darauf hin, die jeweilige (landes-)gesetzliche Grundlage erfordere eine belegbare konkrete...

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