Cesare Vannucchi, Dr. Brigitta Liebscher
Rz. 987
Die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG treten nicht ein, soweit sich die zugrunde liegende Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich ändert.
Rz. 988
Maßgeblich ist der Eintritt einer wesentlichen Änderung zwischen dem Abschluss des Interessenausgleichs und dem Zugang der Kündigungsschreiben. Bei späteren Änderungen kommt ggf. ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht. Unklar ist, anhand welchen Bezugspunktes die Wesentlichkeit einer nachträglichen Änderung zu bestimmen ist; das Gesetz trifft insoweit keine Regelung.
Rz. 989
Die h. M. im Schrifttum nimmt die dem Interessenausgleich zugrunde liegende Betriebsänderung als Maßstab und geht von einer wesentlichen Änderung der Sachlage aus, wenn ein Wegfall der Geschäftsgrundlage des Interessenausgleichs vorliegt. Dies ist nach der Rechtsprechung des BAG nur der Fall, wenn im Kündigungszeitpunkt nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, dass beide Betriebspartner oder einer von ihnen den Interessenausgleich in Kenntnis der späteren Änderung nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten. Dies sei z. B. dann zu bejahen, wenn eine unternehmerische Maßnahme überhaupt nicht mehr oder ganz anders als ursprünglich geplant durchgeführt wird oder wenn sich die im Interessenausgleich vorgesehene Zahl der zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmer erheblich verringert hat. Eine kurzfristige Verzögerung der Betriebsänderung oder eine geringfügige Veränderung der Zahl der zu kündigenden Arbeitnehmer führe dagegen nicht zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage.
Keine wesentliche Änderung der Sachlage liegt vor, wenn die Kündigung einzelner in der Namensliste aufgeführter Arbeitnehmer vermieden wird, weil andere Arbeitnehmer freiwillig das Unternehmen verlassen. In einem vom BAG entschiedenen Fall war immerhin 1/6 der ursprünglich zur Kündigung anstehenden Arbeitnehmer nachträglich von der Namensliste gestrichen worden. Von maßgeblicher Bedeutung war dabei aber auch, dass die Betriebsparteien diese Entwicklung bei Abschluss des Interessenausgleichs bedacht und für solche Fälle eine eigene Regelung getroffen hatten.
Die Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung und der geänderte Prüfungsmaßstab für die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 5 KSchG kommen dann nicht zur Anwendung, wenn sich die Sachlage nach dem Zustandekommen des Interessenausgleichs so wesentlich geändert hat, dass von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage auszugehen ist.
Rz. 990
Andere Stimmen im Schrifttum stellen demgegenüber auf die Normwirkungen des § 1 Abs. 5 KSchG ab. Eine wesentliche Änderung liege danach vor, sobald die Namensliste angesichts eines neuen Sachverhalts nicht mehr die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG zu rechtfertigen vermag. Dies sei u. U. bereits der Fall, wenn sich im Zeitraum zwischen der Erstellung der Namensliste und dem Ausspruch der Kündigungen die sozialen Gesichtspunkte bei einzelnen Arbeitnehmern wesentlich ändern, das Interesse an der Weiterbeschäftigung bestimmter nicht genannter Arbeitnehmer entfällt oder sich der Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer durch Neueinstellungen erweitert. Dass die Namensliste nicht nur in Bezug auf einen oder wenige Arbeitnehmer, sondern in Bezug auf eine größere Anzahl von Arbeitnehmern anders ausgefallen wäre, könne angesichts ihrer großen Einwirkung auf das einzelne Arbeitsverhältnis nicht verlangt werden. Wesentlich ist nach dieser Auffassung jede nachträgliche Änderung, die – sofern sie den Betriebspartnern bei ihren Verhandlungen bekannt gewesen wäre – zu überhaupt keiner, zu einer eingeschränkteren oder zu einer anderen Namensliste geführt hätte.
Rz. 991
Für die Auffassung der h. M. spricht, dass der Gesetzgeber mit der Wiedereinführung des § 1 Abs. 5 KSchG eine größere Rechtssicherheit im Bereich betriebsbedingter Kündigungen gewährleisten will. Dieses Ziel würde verfehlt, wenn quasi jede nachträgliche Modifikation einer Betriebsänderung, die möglicherweise Auswirkungen auf einzelne Arbeitsverhältnisse hat, die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG wieder entfallen lässt. Eine relevante Änderung der Sachlage dürfte jedoch nicht erst dann vorliegen, wenn die gemeinsame Geschäftsgrundlage der Parteien weggefallen ist. Die Verzögerung der geplanten Betriebsänderung ist – in Anlehnung an § 18 Abs. 4 KSchG – beachtlich, wenn sie nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach der Vereinbarung mit dem Betriebsrat stattfinden sollte, durchgeführt wird. Zusätzliche Kündigungen dürften bereits relevant sein, wenn die Zahl der zu kündigenden Mitarbeiter um mehr als 5 % steigt (vgl. die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG). Die Frage, wann eine wesentliche Änderung der Sachlage vorliegt, ist jedenfalls – trotz der o. g. Entscheidung des BAG – noch nicht abschließend geklärt.
Die Betriebspartner sollten angesichts der noch nicht endgültig geklärten Rechtslage im Interessenausgleich regeln, wie zu verfahren ist, wenn entgegen der ursprünglichen Planung nicht alle der in der Namensl...