Rz. 39
Umstritten war das Verhältnis zwischen § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG und § 77 Abs. 3 BetrVG. Das Bundesarbeitsgericht vertritt dazu die sogenannte Vorrangtheorie. Danach schließt § 77 Abs. 3 BetrVG Betriebsvereinbarungen nur in Angelegenheiten aus, in denen dem Betriebsrat kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht zusteht. Soweit es aber um die in § 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 14 BetrVG aufgeführten Angelegenheiten geht, komme es für die Zulässigkeit von Betriebsvereinbarungen allein darauf an, ob die Mitbestimmung gem. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG durch eine "bestehende" tarifliche Regelung ausgeschlossen ist.
Rz. 40
In der Lehre wird demgegenüber vertreten, dass § 77 Abs. 3 BetrVG und § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG unterschiedliche Regelungsgegenstände betreffen. Während § 77 Abs. 3 BetrVG die entscheidende Norm für die Frage sei, ob eine Betriebsvereinbarung als Gestaltungsmittel zulässig sei, regle § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG allein die Frage, ob der Mitbestimmung bereits durch eine bestehende tarifliche Regelung der Boden entzogen ist und sie damit entfällt. Etwas missverständlich wird von der Zwei-Schranken-Theorie gesprochen.
Rz. 41
Praktische Relevanz hat diese Frage deshalb, weil sich die beiden gesetzlichen Schranken in ihrem Anwendungsbereich unterscheiden. Während § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nur greift, wenn im Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ein Tarifvertrag gilt, wird durch § 77 Abs. 3 BetrVG die Betriebsvereinbarung schon dann ausgeschlossen, wenn die Angelegenheiten durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden. Folgt man im oben dargestellten Theorienstreit der Rechtsprechung, so können die Betriebspartner in Betrieben, in denen kein Tarifvertrag gilt, Betriebsvereinbarungen über die mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten gem. § 87 Abs. 1 BetrVG ohne Weiteres abschließen. Nach der Gegenansicht müsste gem. § 77 Abs. 3 BetrVG geprüft werden, ob es Tarifverträge (ggf. auch im Nachwirkungsstadium) gibt, unter die der Betrieb regional und fachlich theoretisch fallen könnte. Wäre dies zu bejahen, dürfte (bzw. müsste) über die Angelegenheit zwar mitbestimmt werden, der Abschluss einer Betriebsvereinbarung wäre jedoch untersagt.
Der Arbeitnehmer verlangt von der Arbeitgeberin weitere Arbeitsvergütung (rund 30.000 EUR). Die Arbeitgeberin ist "Mitglied ohne Tarifbindung" im Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e. V. Im Arbeitsvertrag vom 1997 ist u. a. niedergelegt, dass der Arbeitnehmer "einen monatlichen Bruttomonatslohn auf der Basis von 156,60 Stunden" erhält. Mit dem Betriebsrat schloss die Arbeitgeberin die zum 1.10.2003 in Kraft getretene "Rahmenbetriebsvereinbarung zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort B" (RBV), welche auszugsweise lautet:
1. |
Ziel: Ziel dieser Betriebsvereinbarung ist die langfristige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der L mit einer damit verbundenen weiteren Standortsicherung in B. |
3. |
Erhöhung der Wochenarbeitszeit: Mit Wirkung zum 1.10.2003 beträgt die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit (IRWAZ) für alle Mitarbeiter 40 Stunden. Damit erhöht sich die regelmäßige tägliche Arbeitszeit um 30 Minuten auf 8,0 Stunden zzgl. der bisherigen unbezahlten Pausen. Die Erhöhung der Wochenarbeitszeit erfolgt ohne Lohnausgleich. Einzelheiten werden in einer separaten Betriebsvereinbarung geregelt. |
4. |
Einführung von Zeitkonten im gewerblichen Bereich: -40/+80 Std.; keine Zeitzuschläge. |
Der Arbeitnehmer arbeitete in einer 40-Stunden-Woche und macht u. a. die Zahlung von Überstundenvergütung zzgl. Zuschlag von 25 % geltend, sowie die Feststellung des Umfangs seiner monatlichen Arbeitszeit von 156,60 Stunden. Maßgeblich sei seine vertragliche Arbeitszeit. Die darüber hinaus erbrachte Arbeitszeit seien Überstunden und im Hinblick auf eine betriebliche Übung mit einem Zuschlag von 25 % zu vergüten.
Das Bundesarbeitsgericht sprach dem Arbeitnehmer die begehrte Vergütung zu: Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit des Arbeitnehmers wurde nicht aufgrund einer Betriebsvereinbarung geändert. Zwar beträgt nach Nr. 3 RBV die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für alle Mitarbeiter 40 Stunden (ohne Lohnausgleich). Diese Bestimmung ist aber wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Die Sperrwirkung ist nicht unter dem Gesichtspunkt einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit nach § 87 Abs. 1 BetrVG aufgehoben. Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG nur über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage mitzubestimmen. Seine Mitbestimmungsrechte erstrecken sich damit nicht auf die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit. Auch die Arbeitszeitkontenregelung war unwirksam, sodass ein Anspruch auf die begehrte Überstundenvergütung besteht.
Rz. 42
Aus §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 9 Abs. 3 GG ergibt sich bei tarifwidrigen betrieblichen Regel...