Rz. 72
Im türkischen Scheidungsrecht gilt die Zerrüttungsvermutung (Art. 166 türkZGB). Jeder der Ehegatten kann Scheidungsklage erheben, wenn die Ehegemeinschaft so grundlegend zerrüttet ist, dass den Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann (Art. 166 Abs. 1 türkZGB).
Auch der schuldige Ehegatte kann auf Scheidung klagen. Jedoch kann in diesem Falle der Beklagte der Klage widersprechen, wenn sein Verschulden das Verschulden des Klägers nicht überwiegt. Der türkische Kassationshof hat in seinem Urteil vom 26.11.2015 entschieden, dass zwar auch der überwiegend schuldige Ehegatte eine Scheidungsklage einreichen kann. Dies dürfe aber nicht zu Lasten des völlig unschuldigen Ehegatten gehen, damit nicht eine Partei sich vorsätzlich "schuldhaft" im Sinne der Vorschrift verhält und die Zerrüttung der Ehe herbeiführt, um dann hieraus ein Scheidungsrecht abzuleiten. Aus dieser Erwägung heraus kann der gänzlich unschuldige Ehegatte der Scheidung widersprechen. Die Scheidung wird nur dann ausgesprochen, wenn der Widerspruch des gänzlich unschuldigen Ehegatten nicht rechtsmissbräuchlich erfolgt ist.
Rz. 73
"Für die Scheidung wegen Zerrüttung nach Art. 166 ZGB genügt nicht das Getrenntleben der Eheleute. Der Tatbestand der Zerrüttung ist mit dem deutschen § 1365 BGB nicht identisch. Es gibt auch keine Vermutung der Zerrüttung wie in § 1366 BGB. Vielmehr verlangt die Zerrüttung nach der Rechtsprechung des türkischen Kassationshofes eine objektive, schwerwiegende Störung der ehelichen Verhältnisse. Kleinere alltägliche Streitigkeiten reichen nicht aus, es muss sich um schwere Konflikte von gewisser Dauer handeln, die die positive Einstellung beider Ehegatten oder eines von ihnen und zu seinen ehelichen Verpflichtungen grundsätzlich in Frage stellen. Des Weiteren muss die Störung der ehelichen Verhältnisse zumindest für einen Ehegatten unerträglich geworden sein."
Rz. 74
Die Ehe kann trotz des Widerspruchs eines Ehegatten geschieden werden, wenn der Widerspruch missbräuchlich ist und an der Fortsetzung der Ehe weder für den Beklagten noch für die Kinder ein schützenswertes Interesse besteht (Art. 166 Abs. 2 türkZGB). In der Lehre wird ein Rechtsmissbrauch angenommen, wenn der schuldlose oder weniger schuldige Ehegatte sich formell gegen die Scheidung wehrt, aber die eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich nicht fortführen will.
Rz. 75
"Das Getrenntleben der Ehegatten genügt für die Annahme einer Zerrüttung nicht, solange kein Antrag an das Gericht wegen Verlassens (Art. 164 S. 3 ZGB) gestellt worden ist. Hinsichtlich der vorgetragenen Rechtsmissbräuchlichkeit des Widerspruchs wird auf die zutreffenden Gründe des Nichtabhilfebeschlusses verwiesen."
Rz. 76
Der türkische Gesetzgeber will es unterbinden, dass einer der Ehegatten durch eigenes schuldhaftes Verhalten die Scheidung provozieren und erlangen kann. Diese Regelung hat zwei wesentliche soziale Hintergründe: Erstens geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Ehe ein Familienband ist, das im Idealfall lebenslang halten soll. Zweitens hat insbesondere die Ehefrau ohne die eheliche Lebensgemeinschaft eine geringere soziale Absicherung. Die Institution des Versorgungsausgleichs kennt das türkische System nicht. Daher werten sowohl die türkischen, aber auch die deutschen Gerichte den erstmaligen Einspruch gegen die vom anderen Ehegatten beantragte Scheidung nur in Ausnahmefällen als rechtsmissbräuchlich.
Rz. 77
Dieser Einspruch kann sowohl in Deutschland als auch in der Türkei in einigen Fällen zudem eine aufenthaltsrechtliche Bedeutung haben. Nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 des deutschen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wird die Aufenthaltserlaubnis des von auswärts kommenden Ehegatten im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nicht seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat. Zwar kommt es bei dieser Regelung nicht auf das Scheidungsurteil, sondern die tatsächliche Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft an. Jedoch muss eine Versöhnungsabsicht auch in einer verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzung von Bedeutung sein – dies gerade dann, wenn der betroffene Ehegatte andere schützenswerte Interessen (z.B. Arbeitsplatz) vorweisen kann.