I. Unterbrechung des Zusammenlebens (Art. 197 türkZGB)
Rz. 70
Ein Ehegatte ist berechtigt, den gemeinsamen Haushalt so lange aufzuheben, als seine Persönlichkeit, seine wirtschaftliche Sicherheit oder das Wohl der Familie durch das Zusammenleben ernstlich gefährdet ist. In der Praxis kommt es häufig vor, dass ein Ehegatte den anderen hinsichtlich des Familienvermögens vor vollendete Tatsachen stellt, wenn das Zusammenleben nicht mehr funktioniert. Der Schutz der schwächeren Partei als Maxime des (Familien-)Rechts gebietet es, dass der Gesetzgeber mit bestimmten Instrumentarien dieser Entwicklung entgegentritt. Das Gericht hat die Geldbeträge, die ein Ehegatte dem anderen beisteuern muss, festzusetzen, wenn dies von einer der Parteien beantragt wird und die Unterbrechung des Zusammenlebens berechtigt ist. In diesem Falle muss das Gericht außerdem die Benutzung der Wohnung und des Hausrats und, wenn die Umstände es rechtfertigen, den Güterstand regeln.
Rz. 71
Der schweizerische Gesetzgeber verpflichtet das Gericht in diesem Fall, Gütertrennung anzuordnen (Art. 176 Abs. 1 Nr. 3 schwZGB). Der türkische Gesetzgeber lässt dem Gericht die Freiheit, zwischen anderen Güterstandsformen des Gesetzes eine Wahl zu treffen. Jedoch wird es in der Praxis darauf hinaus laufen, dass die Gerichte die Gütertrennung anordnen, weil die anderen Güterstandsformen sowohl für die Betroffenen als auch für die Richterschaft kompliziert sind. Ein Ehegatte kann die Unterbrechung des Zusammenlebens auch begehren, wenn der andere das Zusammenleben grundlos ablehnt oder das Zusammenleben aus einem anderen Grund unmöglich ist.
II. Scheidungsgründe
1. Zerrüttung
Rz. 72
Im türkischen Scheidungsrecht gilt die Zerrüttungsvermutung (Art. 166 türkZGB). Jeder der Ehegatten kann Scheidungsklage erheben, wenn die Ehegemeinschaft so grundlegend zerrüttet ist, dass den Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann (Art. 166 Abs. 1 türkZGB).
Auch der schuldige Ehegatte kann auf Scheidung klagen. Jedoch kann in diesem Falle der Beklagte der Klage widersprechen, wenn sein Verschulden das Verschulden des Klägers nicht überwiegt. Der türkische Kassationshof hat in seinem Urteil vom 26.11.2015 entschieden, dass zwar auch der überwiegend schuldige Ehegatte eine Scheidungsklage einreichen kann. Dies dürfe aber nicht zu Lasten des völlig unschuldigen Ehegatten gehen, damit nicht eine Partei sich vorsätzlich "schuldhaft" im Sinne der Vorschrift verhält und die Zerrüttung der Ehe herbeiführt, um dann hieraus ein Scheidungsrecht abzuleiten. Aus dieser Erwägung heraus kann der gänzlich unschuldige Ehegatte der Scheidung widersprechen. Die Scheidung wird nur dann ausgesprochen, wenn der Widerspruch des gänzlich unschuldigen Ehegatten nicht rechtsmissbräuchlich erfolgt ist.
Rz. 73
"Für die Scheidung wegen Zerrüttung nach Art. 166 ZGB genügt nicht das Getrenntleben der Eheleute. Der Tatbestand der Zerrüttung ist mit dem deutschen § 1365 BGB nicht identisch. Es gibt auch keine Vermutung der Zerrüttung wie in § 1366 BGB. Vielmehr verlangt die Zerrüttung nach der Rechtsprechung des türkischen Kassationshofes eine objektive, schwerwiegende Störung der ehelichen Verhältnisse. Kleinere alltägliche Streitigkeiten reichen nicht aus, es muss sich um schwere Konflikte von gewisser Dauer handeln, die die positive Einstellung beider Ehegatten oder eines von ihnen und zu seinen ehelichen Verpflichtungen grundsätzlich in Frage stellen. Des Weiteren muss die Störung der ehelichen Verhältnisse zumindest für einen Ehegatten unerträglich geworden sein."
Rz. 74
Die Ehe kann trotz des Widerspruchs eines Ehegatten geschieden werden, wenn der Widerspruch missbräuchlich ist und an der Fortsetzung der Ehe weder für den Beklagten noch für die Kinder ein schützenswertes Interesse besteht (Art. 166 Abs. 2 türkZGB). In der Lehre wird ein Rechtsmissbrauch angenommen, wenn der schuldlose oder weniger schuldige Ehegatte sich formell gegen die Scheidung wehrt, aber die eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich nicht fortführen will.
Rz. 75
"Das Getrenntleben der Ehegatten genügt für die Annahme einer Zerrüttung nicht, solange kein Antrag an das Gericht wegen Verlassens (Art. 164 S. 3 ZGB) gestellt worden ist. Hinsichtlich der vorgetragenen Rechtsmissbräuchlichkeit des Widerspruchs wird auf die zutreffenden Gründe des Nichtabhilfebeschlusses verwiesen."
Rz. 76
Der türkische Gesetzgeber will es unterbinden, dass einer der Ehegatten durch eigenes schuldhaftes Verhalten die Scheidung provozieren und erlangen kann. Diese Regelung hat zwei wesentliche soziale Hintergründe: Erstens geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Ehe ein Familienband ist, das im Idealfall lebenslang halten soll. Zweitens hat insbesondere die Ehefrau ohne die eheliche Lebensgemeinschaft eine geringere so...