Prof. Dr. Christian Rumpf
A. Einführung
I. Überblick über das türkische Rechtssystem
1. Rechtsgeschichte
Rz. 1
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begann im Osmanischen Reich in einer französisch beeinflussten Reformbewegung (Tanzimat) eine Modernisierung der türkischen Rechtsordnung, die sich in die europäischen Kodifizierungsbewegungen einordnen lässt. Im Jahre 1876 gab es erstmals eine geschriebene Verfassung, die dann im Jahre 1909 eine Metamorphose von der konstitutionellen hin zu einer parlamentarischen Monarchie durchmachte. Nachdem das Osmanische Reich den Ersten Weltkrieg verloren hatte, setzte sich mit der Abschaffung des Sultanats (1922), der Gründung der Republik (1923) und der Abschaffung des Kalifats (1924) unter der ersten republikanischen Verfassung (1924) die Säkularisierung und Modernisierung der Rechtsordnung in den kemalistischen Reformen fort. In schneller Folge wurden durch die Übernahme des Schweizer ZGB und OGB sowie des italienischen StGB, der deutschen StPO, der damaligen ZPO des Schweizer Kantons Neuchâtel und des schweizerischen Zwangsvollstreckungs- und Konkursrechts die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen für das moderne türkische Recht geschaffen, das sich seither – jeweils auch den Tendenzen in Europa folgend – fortentwickelt hat.
Rz. 2
Nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem die Türkei nicht beteiligt war, gehörte die Türkei zu den ersten Mitgliedern des Europarats und der NATO. Sie ratifizierte 1954 die EMRK nebst dem 1. Zusatzprotokoll. 1957 trat das erste selbstgemachte größere Gesetzeswerk, das HGB a.F., in Kraft. 1961 wurde die erste republikanische Verfassung durch eine neue, modernere Verfassung ersetzt, zu deren wesentlichen Merkmalen ein umfassender Grundrechtsschutz und die Konsolidierung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit mit umfassender Rechtsweggarantie sowie einem Verfassungsgericht gehörten. Kurz darauf wurde das Staatsangehörigkeitsrecht modernisiert, das schließlich durch das heute geltende Staatsangehörigkeitsgesetz (Gesetz Nr. 5901, 2009) ersetzt wurde.
Rz. 3
Wichtige Einschnitte in der jüngeren türkischen Rechtsgeschichte bilden der Putsch vom 12.9.1980, der zur Ausarbeitung der Verfassung von 1982 (TV) führte, und die Verfassungsänderung von 2017, mit welcher ein Präsidialsystem eingeführt wurde, welches grundlegende Auswirkungen insbesondere auch auf die Unabhängigkeit der Justiz hatte. Der Verfassung zufolge ist die Türkei ein demokratischer, sozialer und säkularer (laizistischer) Rechtsstaat (Art. 2 TV), der der Freiheit seiner Bürger verpflichtet ist. Anders als in anderen europäischen Verfassungen kommt aber nach wie vor eine Staatsideologie zum Tragen, die ihre Ursprünge in den Erfahrungen der letzten Phase des Osmanischen Reiches und der ersten Periode nach dem Ersten Weltkrieg hat und im Kemalismus nach wie vor die vom ersten Präsidenten der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, entwickelten Grundsätze widerspiegelt, deren Hauptanliegen die Erhaltung der territorialen und nationalen Einheit und der religiösen Neutralität der Republik ist. Die seit 2001 regierende AKP hat jedoch das Laizismus-Prinzip stark ausgehöhlt.
2. Gegenwärtige Situation
Rz. 4
Der gegenwärtige Stand des türkischen Rechts (Juni 2021) ist von intensiven Reformbewegungen geprägt, die gleichzeitig den für die Aufnahme der Türkei in die EU geforderten Anpassungen des Normenbestandes an europäische Standards Rechnung zu tragen suchen. Auch die großen Kodifikationen sind davon betroffen.
Rz. 5
Nachdem bereits Mitte der neunziger Jahre viele wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen reformiert wurden – so etwa im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Wettbewerbsrechts mit der Schaffung eines Patentamtes (Patent Enstitüsü) und eines Kartellamtes (Rekabet Kurumu, mit dem Wettbewerbsrat Rekabet Kurulu als Entscheidungsgremium) sowie der schrittweisen Verbesserung des Zugangs zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit –, trat mit dem neuen ZGB (Türk Medeni Kanunu) am 1.1.2002 die erste größere Neukodifikation in Kraft, wobei die Grundstruktur des alten ZGB erhalten blieb. Es sind also auch fernerhin das Personenrecht, das Familien- und Erbrecht sowie das Sachenrecht im ZGB geregelt, das sich nach wie vor stark an das Schweizer Vorbild anlehnt.
Rz. 6
Im Jahre 2005 wurde ein völlig neues Strafgesetzbuch verabschiedet, in dem sowohl Elemente der bisher aus Italien beeinflussten alten Kodifikation als auch Elemente aus anderen Rechtsräumen, insbesondere Deutschland, zu erkennen sind. Hervorzuheben ist insofern die nunmehr endgültige und vollständige Abschaffung der Todesstrafe. Das Strafgesetzbuch wurde seither einige Male geändert und ergänzt, insbesondere auch im Hinblick auf "Compliance" im Wirtschaftsrecht. Auch die Strafprozessordnung wurde im gleichen Zuge neu gefasst, hier blieb der Einfluss aus Deutschland markant erhalten.
Rz. 7
Bis zur Reform des Schuldrechts war das Schuldrecht in einem Obligationengesetzbuch ...