A. Historische Entwicklung
Rz. 1
Die türkische Republik hat seit ihrer Gründung im Jahre 1923 einen steten und bedeutenden Rezeptionsprozess in ihrem Rechtssystem erlebt. Dies begann mit der Abschaffung des islamischen Rechts (Scharia), das den neuen Entwicklungen in der Welt nicht Rechnung tragen konnte. Im Bereich des Zivilrechts griff man zurück auf das Bürgerliche Gesetzbuch der Schweiz, das 1912 in Kraft trat und zur damaligen Zeit im Vergleich zu anderen Ländern das modernste war. Der zweite bedeutende Reformprozess im türkischen Familienrecht war angesichts der sozioökonomischen und den damit einhergehenden gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere auf dem Gebiet des Familienrechts – überfällig geworden. Dies wurde noch einmal deutlich, als das türkische Verfassungsgericht im Jahre 1992 den verfassungswidrigen Art. 159 türkZGB aufhob, der die Erlaubnis des Ehemannes für die Arbeitstätigkeit der Ehefrau verlangte. Angesichts der internationalen Verpflichtungen der Türkei waren zahlreiche Vorschriften des türkZGB nicht mehr zeitgemäß und insbesondere im Bereich der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau war eine Reform nötig geworden.
Rz. 2
Der türkische Gesetzgeber hat am 22.11.2001 ein neues Zivilgesetzbuch verabschiedet, welches das vorher gültige türkZGB reformierte und gleichzeitig die bisherige Systematik mit einigen kleinen Ausnahmen beibehielt. Das alte Gesetzbuch bestand aus 937 Artikeln, das reformierte Gesetzbuch beinhaltet insgesamt 1030 Artikel. Bei der Vorbereitung des neuen Gesetzes hat der Gesetzgeber insbesondere das schweizerische, deutsche und französische BGB mit seinen Entwicklungen und seiner Praxis berücksichtigt. Berücksichtigung fanden im Gesetz auch die "Konvention zur Abschaffung aller Diskriminierungen gegen Frauen" vom 3.9.1981, die seit dem 14.10.1985 als innerstaatliches Recht der Türkei gilt, und das "Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption" vom 29.5.1993. Die Verwirklichung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und der Schutz der Kinder bilden die Hauptachse der Gesetzesreform. Darüber hinaus wurde die Sprache des Gesetzes weitgehend vom "Alttürkischen" (Osmanisch) befreit und durch die moderne türkische Sprache ersetzt, mit Ausnahme von Rechtsbegriffen, die Rechtsinstitutionen beschreiben und nicht ohne Weiteres mit türkischen Begriffen zu ersetzen sind.