Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Der in der Praxis bedeutsamste Haftgrund ist der der Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 1 Nr. 2. |
2. |
Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren eher entziehen, als sich zur Verfügung halten werde. |
3. |
Die Fluchtgefahr muss sich aus bestimmten Tatsachen ergeben, bloße Mutmaßungen und Befürchtungen reichen nicht. |
4. |
Im Hinblick auf die Annahme von Fluchtgefahr können Auslandsverbindungen von Bedeutung sein. |
5. |
In der Praxis wird zur Begründung der Fluchtgefahr meist (immer noch) auf die (hohe) Straferwartung abgestellt. |
6. |
Von Bedeutung kann in der Praxis neben der (bloßen) Fluchtgefahr auch der Haftgrund der Flucht i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 1 sein. |
Rdn 4722
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4650, u. bei→ Untersuchungshaft, Haftbefehl, Außervollzugsetzung, Teil A Rdn 4680.
Rdn 4723
1. Der in der Praxis bedeutsamste Haftgrund ist der der Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 1 Nr. 2. Die Rspr. ist umfangreich und häufig nicht einheitlich; sie lässt sich hier nur in Grundsätzen darstellen (Einzelh. Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 17 ff.; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn 37 ff.; Schlothauer/Nobis u.a., Rn 479 ff.; Herrmann, Rn 683 ff., jeweils m.w.N.; zur "Abschaffung" dieses Haftgrundes Nobis StraFo 2013, 318; s.a. Wolf, a.a.O., die den Haftgrund der "Fluchtgefahr" empirisch untersucht; zur Überprüfung von Fluchtprognosen Lind StV 2019, 118):
Rdn 4724
2. Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren eher entziehen, als sich zur Verfügung halten werde (u.a. KG StV 2015, 646). Diese Umstände sind von den Ermittlungsbehörden rechtzeitig zu ermitteln (OLG Koblenz StV 2004, 491). Erforderlich ist ein Verhalten des Beschuldigten, das den Erfolg hat, den Fortgang des Strafverfahrens dauernd oder wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft des Beschuldigten für Ladungen zur Verfügung zu stehen, zu verhindern (s. die Formulierung der Rspr.; Nachw. bei Teil U Rdn 4726 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 17 m.w.N.; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn 37 ff. m.w.N.; zum Erlass eines HB bei Unzustellbarkeit eines Strafbefehls, der nur auf eine Geldstrafe lautet, OLG Düsseldorf NJW 1997, 2965). Entscheidend ist die Sicht des jeweiligen Verfahrens ohne Rücksicht darauf, dass in einem anderen Verfahren freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Beschuldigten angeordnet sind (OLG Hamm StV 2004, 221).
☆ Von der Rspr. wird ein Sich-Entziehen auch dann angenommen, wenn sich der Beschuldigte bewusst in einen Zustand länger andauernder Verhandlungsunfähigkeit versetzt , z.B. durch Drogenmissbrauch (KG JR 1974, 165; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 283 m. Anm. Lorenz StRR 2015, 277 für Entzug von Flüssigkeit bzw. Nahrung und/oder die Nichteinnahme von Medikamenten; OLG Oldenburg NStZ 1990, 431; Meyer-Goßner/Schmitt , § 112 Rn 18 m.w.N.; a. SSW-StPO/ Herrmann , § 112 Rn 47 f.)."Sich-Entziehen" auch dann angenommen, wenn sich der Beschuldigte bewusst in einen Zustand länger andauernder Verhandlungsunfähigkeit versetzt, z.B. durch Drogenmissbrauch (KG JR 1974, 165; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 283 m. Anm. Lorenz StRR 2015, 277 für Entzug von Flüssigkeit bzw. Nahrung und/oder die Nichteinnahme von Medikamenten; OLG Oldenburg NStZ 1990, 431; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 18 m.w.N.; a. SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn 47 f.).
Rdn 4725
3. Die Fluchtgefahr muss sich aus bestimmten Tatsachen ergeben, bloße Mutmaßungen und Befürchtungen reichen nicht (u.a. OLG Celle, Beschl. v. 7.9.2023 – 1 Ws 248/23, StV 2024, 165; Beschl. v. 8.4.2019 – 3 Ws 102/18). Insoweit genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie beim "dringenden Tatverdacht" (→ Untersuchungshaft, Haftbefehl, Tatverdacht, Teil U Rdn 4709; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 22 m.w.N. aus der Rspr.). Der Haftgrund der Fluchtgefahr kann auch auf Angaben einer V-Person gestützt werden; deren Angaben müssen jedoch einer kritischen Beurteilung standhalten (KG StRR 2007, 197). Ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falls (z.B. KG StV 2012, 609; StRR 2012, 154 m. Anm. Burhoff; OLG Celle, Beschl. v. 8.4.2019 – 3 Ws 102/18, StRR 6/2019, 2 [Ls.; auch "innere Tatsachen"]; Beschl. v. 7.9.2023 – 1 Ws 248/23, StV 2024, 165; OLG Hamm, Beschl. v. 23.6.2008 – 2 Ws 170/08; Beschl. v. 16.5.2024 – III-1 Ws 192/24; OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.7.2022 – 4 Ws 302/22; StRR 872022, 31 m. Anm. Burhoff). Diese dürfen nicht zu Lasten des Beschuldigten offen bleiben (KG StV 2015, 646; 2016, 715 für die Frage, ob die dem HB zugrunde liegende Straftat nach Erwachsenen- oder nach Jugendrecht zu beurteilen ist; StV 2017, 453 [Ls.]). Die Beurteilung der Fluchtgefahr verlangt eine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit den naheliegenden persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten und den tatsächlichen Umständen (BVerfG, Beschl. v. 9.3.2020 – 2 ...