Das Wichtigste in Kürze:
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Bei bestimmten schweren Straftaten, wie z.B. Tötungsdelikten, ist nach § 112 Abs. 3 die Anordnung der U-Haft auch zulässig, wenn keiner der (allgemeinen) Haftgründe gegeben ist. |
2. |
Neben den allgemein bei der Übernahme des Mandats zu berücksichtigenden Fragen wird der Verteidiger beim U-Haft-Mandat besonders prüfen, ob er diesem zeitlich gewachsen ist.3. |
Rdn 4737
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4650 und bei → Untersuchungshaft, Haftbefehl, Außervollzugsetzung, Teil A Rdn 4680.
Rdn 4738
1. Bei bestimmten schweren Straftaten, wie z.B. Tötungsdelikten, aber inzwischen auch die §§ 176c, 176d StGB (dazu die Gesetzesbegründung zum "Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" v. 16.6.2021 in BT-Drucks 19/23707, S. 46), ist nach § 112 Abs. 3 die Anordnung der U-Haft auch zulässig, wenn keiner der (allgemeinen) Haftgründe gegeben ist (BGH NJW 2017, 341 zur Bejahung des Haftgrundes der Schwerkriminalität bei Annahme des dringenden Tatverdachts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung); das OLG Hamm wendet die Vorschrift auf die (wortgleiche) Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. entsprechend an (OLG Hamm, Beschl. v. 20.6.2023 – 4 Ws 88/23, StRR 10/2023, 32). Dieser Haftgrund der "Tatschwere" wird in Rspr. und Lit. z.T. als ein offensichtlicher Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angesehen (Nachw. bei Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 37; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn 92 ff.), was zur Folge hat, dass er durch die Rspr. des BVerfG verfassungskonforme Einschränkungen erfahren hat (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.). Danach ist im Fall des § 112 Abs. 3 der Richter nur von den strengen Anforderungen für die Annahme der Haftgründe des § 112 Abs. 2 befreit, es müssen nämlich nicht mehr bestimmte Tatsachen die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr begründen (wegen der Einzelh. Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 36 ff. m.w.N.; s.a. BT-Drucks 19/23707, S. 46).
Rdn 4739
2. Es müssen aber auch im Fall des § 112 Abs. 3 bestimmte Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne die Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte (s.u.a. BVerfG NJW 1966, 243; BGH, Beschl. v. 13.7.2022 – StB 28/22, NStZ-RR 2022, 351; OLG Düsseldorf StraFo 2000, 67; OLG Karlsruhe StV 2010, 30; zu den Anforderungen SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn 97 ff.). Die Haftanordnung darf nicht auf einen anderen, der StPO unbekannten Haftgrund gestützt werden (OLG Karlsruhe, a.a.O. [für nicht auszuschließende Gefahr der Vollendung des bislang nur versuchten Tötungsdelikts]. Der Erlass eines HB ist auch in diesen Fällen verfehlt, wenn eine Flucht ganz fernliegend und eine Wiederholung der Tat ausgeschlossen ist oder dieser Gefahr durch mildere Maßnahmen begegnet werden kann (OLG Dresden, Beschl. v. 1.11.2023 – 1 Ws 226/23, StraFo 2023, 480 [schwer kranker Beschuldigter]; OLG Köln NJW 1996, 1686 [für 60 Jahre alten, zu 60 % schwerbehinderten, verheirateten, nicht vorbestraften Rentner, dem ein Totschlag zur Last gelegt wird]; LG Kiel StraFo 2001, 360; LG Koblenz StV 2011, 290 [Beschuldigte ist seit längerer Zeit über die gegen ihn erhobenen Mordvorwürfe informiert]).
Siehe auch: → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4649 m.w.N.; → Untersuchungshaft, Haftgründe, Allgemeines, Teil U Rdn 4717 m.w.N.