Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Jeder HB steht nach § 112 Abs. 1 S. 2 unter dem Gebot der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. |
2. |
Eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist der in Haftsachen geltende besondere folgende Beschleunigungsgrundsatz, der vor allem bei einer den Ermittlungsbehörden ggf. anzulastenden Verfahrensverzögerung Bedeutung erlangt. |
3. |
Zu beachten sind bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung bestimmte Grundsätze. |
Rdn 4667
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4650 und bei → Untersuchungshaft, Haftbefehl, Außervollzugsetzung, Teil A Rdn 4680.
Rdn 4668
1. Jeder HB, auch der außer Vollzug gesetzte und der nicht vollzogene (BVerfG StV 1996, 156), steht nach § 112 Abs. 1 S. 2 unter dem Gebot der Beachtung des (allgemeinen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der besonders nochmals in § 120 Abs. 1 S. 1 erwähnt ist (eingehend zur Verhältnismäßigkeit Neumann, S. 659 ff.; zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei besonderer Schwere der Schuld LG Gera NJW 1996, 2586). Danach darf die U-Haft nur angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht außer Verhältnis steht. Bei der insoweit erforderlichen Abwägung müssen alle Umstände des (Einzel-)Falls berücksichtigt werden, wie z.B. die Schwere des Eingriffs in den Lebensbereich des Beschuldigten, auch sein Gesundheitszustand, die Bedeutung der Strafsache und die zu erwartenden Rechtsfolgen (z.B. BVerfGK 19, 428; BVerfG, Beschl. v. 17.1.2013 – 2 BvR 2089/12; Beschl. v. 25.6.2018 – 2 BvR 631/18; SächsVerfGH StRR 2013, 34; OLG Bremen, Beschl. v. 24.4.2019 – 1 Ws 44/19, OLGSt StPO § 112 Nr. 26; OLG Naumburg StraFo 2013, 32; OLG Rostock StV 2006, 311; AG Kerpen, Beschl. v. 6.11.2017 – 40 Gs 328/17, StV 2019, 113 [Ls.; nicht, wenn nur Verhängung einer Geldstrafe droht]; Einzelh. Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 11 m.w.N.). Auch bei relativ kurzer Lebenserwartung des Beschuldigten ist eine Abwägung im Einzelfall erforderlich (KK/Graf, § 112 Rn 55; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 11a). Von Bedeutung können sein die Auswirkungen einer schweren und unheilbaren Krankheit, die mit Sicherheit vor Abschluss des Verfahrens zum Tode des Beschuldigten führen wird (BerlVerfGH NJW 1993, 515; 1994, 436; aber LG Kleve StRR 2015, 35 m. abl. Anm. Burhoff [nur noch sechsmonatige Lebenserwartung steht U-Haft nicht entgegen]), bzw. auch eine durch den Vollzug der U-Haft hervorgerufene konkrete Lebensgefährdung (grds. OLG Nürnberg StV 2006, 314; dazu Gatzweiler StV 2006, 318 in der Anm. zu OLG Nürnberg, a.a.O.; zur Aufhebung eines HB wegen Unverhältnismäßigkeit noch OLG Oldenburg StV 1996, 388 m.w.N.). In Betracht kommen kann die Aufhebung des HB auch wegen nicht nur vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit (s. KG StV 1997, 644; zur Verhältnismäßigkeit der U-Haft im Steuerstrafverfahren Rüping wistra 2000, 11; zur Anrechnung von Abschiebehaft OLG Celle NStZ-RR 2002, 254). Von Bedeutung kann auch sein, dass die StA das Verfahren ggf. zunächst im Hinblick auf ein anderes Verfahren nach § 154 eingestellt hatte (OLG Stuttgart StV 2008, 85).
Rdn 4669
2. Hinweis für den Verteidiger!
a) Eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist der in Haftsachen geltende besondere folgende Beschleunigungsgrundsatz, der vor allem bei einer den Ermittlungsbehörden ggf. anzulastenden Verfahrensverzögerung Bedeutung erlangt. Dieser spielt in der neueren verfassungsgerichtlichen Rspr. insbesondere im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 GG eine besondere Rolle. Die damit zusammenhängenden Fragen und die Auswirkungen auf den Fortbestand eines HB sind u.a. dargestellt bei → Haftprüfung durch das OLG, Beschleunigung, Teil H Rdn 2630 ff. Die dazu vorliegende Rspr. kann ergänzend bei der Prüfung der (allgemeinen) Verhältnismäßigkeit herangezogen werden (a. Liebhart NStZ 2017, 254).
Rdn 4670
b) Der aus Art. 5 Abs. 3 S. 2 EMRK folgende (besondere) Beschleunigungsgrundsatz räumt dem Beschuldigten ausdrücklich einen Anspruch auf "Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung" ein (dazu a. EGMR NJW 2015, 3773; StV 2005, 136; st. Rspr. des BVerfG, u.a. BVerfG NJW 2005, 2612 [Ls.]; 2005, 3485; 2006, 668; 2006, 672; 2006, 1336; StV 2006, 645 [Ls.]; 2008, 421; 2009, 479; 2011, 31; s.a. KG StRR 2014, 356 m. Anm. Herrmann [längere Flucht des Beschuldigten und verzögerte Überstellung]; OLG Brandenburg, Beschl. v. 3.1.2019 – 1 Ws 203/19 [verzögerte Fertigstellung und Zustellung des HV-Protokolls]; OLG Hamm StV 2006, 191; OLG Köln StraFo 2015, 323 [Aufhebung eines Haftbefehls u.a. wegen des Tatvorwurfs des Mordes, Unverhältnismäßigkeit der weiteren Untersuchungshaft von schon 5 Jahren 9 Monaten wegen überlanger Verfahrensdauer]; OLG Frankfurt am Main StV 2006, 195). Er führt zu der allgemeinen Forderung, dass U-Haft-Verfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung zu führen sind. Sie haben grds. Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren (die Na...