Das Wichtigste in Kürze:

1. Von einer schriftlichen Urteilsbegründung kann in Bußgeldverfahren in den Grenzen des § 77b abgesehen werden.
2. Ein Absehen ist nach § 77b Abs. 1 ist zulässig, wenn gegen das Urteil keine fristgemäße Rechtsbeschwerde eingelegt wird, alle Anfechtungsberechtigten auf deren Einlegung verzichtet haben oder einer der im Gesetz genannten Fälle vorliegt, bei denen die Verzichtserklärung entbehrlich ist.
3. Abweichend von den allgemeinen Regeln kann bei einem solchen Urteil ohne Gründe die Begründung innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist in den in § 77b Abs. 2 genannten Fällen nachgeholt werden.
4. Die Abgrenzung eines förmlichen Urteils ohne Gründe etwa in Form des sog. Protokollurteils von einem bloßen Entwurf ist im Einzelfall schwierig.
5. Fehler bei der Anwendung des § 77b können im Rahmen der Rechtsbeschwerde von Bedeutung sein.
 

Rdn 3718

 

Literaturhinweise:

Deutscher, Das Absehen von Urteilsgründen im Bußgeldverfahren, VRR 2013, 448

Fromm, Zu den Anforderungen an die schriftlichen Urteilsgründe in Bußgeldsachen, DAR 2013, 665

Greiner, Auf dem Prüfstand: Schriftliche Urteilsbegründung bei Geisterverhandlung, NZV 2023, 204

Russell, Fallstricke des Abwesenheitsverfahren nach § 74 OWiG, DAR 2019, 675

Simon, Nachträgliche Abänderung eines abgekürzten Bußgeldurteils, Ausführungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen und Absehen vom Fahrverbot bei länger zurückliegender Tat, DAR 2022, 293

Staub, Das "ungewollte" Absehen von Urteilsgründen im Bußgeldverfahren – ein zumindest vorläufiger Erfolg für die Begründetheit der Rechtsbeschwerde, DAR 2020, 716

s. auch die Hinw. bei → Urteil, Allgemeine Feststellungen, Rdn 3739.

 

Rdn 3719

1. Für Urteile in Bußgeldsachen gelten grds. dieselben Regeln wie für Strafurteil nach § 267 Abs. 1 StPO, wobei die Anforderungen jedenfalls in Teilaspekten wegen des Charakters als Massenverfahren nicht überspannt werden dürfen (eingehend → Urteil, Allgemeine Feststellungen, Rdn 3739). Bei rechtskräftigen Strafurteilen können nach Maßgabe des § 267 Abs. 4, 5 StPO die schriftlichen Urteilsgründe abgekürzt werden. Für rechtskräftige Bußgeldurteile geht das Gesetz mit dem im Jahr 1986 eingeführten § 77b OWiG, der § 267 Abs. 4, 5 StPO verdrängt (Göhler/Seitz/Bauer, § 77b Rn 1), noch weiter. In ihrem Anwendungsbereich erlaubt die Vorschrift ein vollständiges Absehen von Gründen. Das Urteil besteht dann nur aus Rubrum und Tenor, selbst eine Bezugnahme auf den Bußgeldbescheid ist nicht erforderlich. Sollte der Verfahrensgegenstand zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Gesichtspunkt "ne bis in idem" von Bedeutung sein, kann dies durch Rückgriff auf den Bußgeldbescheid geklärt werden (§ 67 Abs. 1). Auf diese Weise soll der Arbeitsaufwand für den Tatrichter in Bußgeldsachen als Massenverfahren erleichtert werden.

 

☆ Wird die Rechtsbeschwerde bei mehreren prozessualen Taten oder materieller Tatmehrheit auf einen Teil hiervon beschränkt, ist § 77b nur hinsichtlich der anderen Tat(en) anwendbar, nicht hingegen bei Tateinheit, da insoweit eine Teilanfechtung nicht zulässig ist (OLG Hamm VRS 74, 447). Ein Absehen von den Urteilsgründen soll ebenfalls nicht zulässig sein, wenn der im Urteil erfolgte Schuldspruch vom Bußgeldbescheid abweicht (so OLG Karlsruhe NZV 1993, 364, 365). Dagegen spricht allerdings, dass der Bußgeldbescheid nur den Prozessgegenstand in tatsächlicher Hinsicht bestimmt, während das Gericht in dessen rechtlicher Bewertung frei ist.mehreren prozessualen Taten oder materieller Tatmehrheit auf einen Teil hiervon beschränkt, ist § 77b nur hinsichtlich der anderen Tat(en) anwendbar, nicht hingegen bei Tateinheit, da insoweit eine Teilanfechtung nicht zulässig ist (OLG Hamm VRS 74, 447). Ein Absehen von den Urteilsgründen soll ebenfalls nicht zulässig sein, wenn der im Urteil erfolgte Schuldspruch vom Bußgeldbescheid abweicht (so OLG Karlsruhe NZV 1993, 364, 365). Dagegen spricht allerdings, dass der Bußgeldbescheid nur den Prozessgegenstand in tatsächlicher Hinsicht bestimmt, während das Gericht in dessen rechtlicher Bewertung frei ist.

 

☆ Der Bundesrat hat am 3.7.2020 beschlossen, den Entwurf eines Gesetzes zur Effektivierung des Bußgeldverfahrens beim Bundestag einzubringen (BR-Drucks 107/20 [B]; näher → Fahrverbot, verfahrensrechtliche Besonderheiten , Rdn 1785 ). Dieser Entwurf sieht auch Änderungen des § 77b vor. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Umfang dieser Entwurf umgesetzt werden wird.Fahrverbot, verfahrensrechtliche Besonderheiten, Rdn 1785). Dieser Entwurf sieht auch Änderungen des § 77b vor. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Umfang dieser Entwurf umgesetzt werden wird.

 

Rdn 3720

2.a) Von der Systematik her gilt: Eine schriftliche Urteilsbegründung ist stets erforderlich und muss innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO (i.d.R. bis 5 Wochen nach der Verkündung) abgesetzt werden, wenn

mindestens ein zur Anfechtung Berechtigter gegen das Urteil ein Rechtsmittel einlegt hat, oder
die Staatsanwaltschaft zwar an der...

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