Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Voraussetzung für den Erlass eines HB nach den §§ 112 ff. ist zunächst "dringender" Tatverdacht. |
2. |
Der "dringende" Tatverdacht darf nur aus bestimmten Tatsachen, nicht nur aus bloßen Vermutungen oder aus möglichen künftigen Ermittlungsergebnissen abgeleitet werden. |
3. |
Fraglich ist, in welchem Umfang der Verteidiger zum "dringenden Tatverdacht" in einer → Schutzschrift oder in einer Stellungnahme im Rahmen der Haftprüfung durch das OLG Stellung nehmen soll. |
Rdn 4708
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4650.
Rdn 4709
1.a) Voraussetzung für den Erlass eines HB ist nach den §§ 112 ff. zunächst "dringender" Tatverdacht.
Der Richter muss das Vorliegen der Voraussetzungen für den HB eigenverantwortlich prüfen (BGH, Beschl. v. 16.1.2020 – 2 BGs 408/30, StraFo 2021, 470). Dafür dürfen von der StA nicht nur ausgewählte Aktenteile vorgelegt werden.
Rdn 4710
b) "Dringender" Tatverdacht i.S.d. § 112 Abs. 1 S. 1 ist zu bejahen, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Nicht erforderlich ist nach h.M. (Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 5 m.w.N.; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn 6 ff.; zu allem auch Schlothauer/Nobis u.a., Rn 375 ff.; Langner S. 27 ff.; Herrmann, Rn 581 ff.; ders., StraFo 2016, 89; u.a. OLG Hamburg, Beschl. v. 11.10.2016 – 2 Ws 216/16; Beschl. v. 26.4.2019 – 2 Ws 48 u. 49/19, dass eine Verurteilung wahrscheinlich ist, es genügt die Möglichkeit der Verurteilung (OLG Bremen StV 2010, 581; zur "Kollision" mit der Unschuldsvermutung D. Herrmann StraFo 2016, 89; s. noch BVerfG, Beschl. v. 9.3.2020 – 2 BvR 103/20, NJW 2020, 1504 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 4/2020, 31 [begründete Zweifel an der Unschuld]). Der "dringende" Tatverdacht ist zu unterscheiden vom → Anfangsverdacht, Teil A Rdn 562, und vom hinreichenden Tatverdacht, der zur → Erhebung der Anklage, Teil E Rdn 2333, und zur Eröffnung des Hauptverfahrens führt (zum sich abschwächenden dringenden Tatverdacht nach Anklageerhebung OLG Brandenburg StV 1996, 157; zu den Verdachtsgraden Pfordte StraFo 2016, 53; s.a. noch (vgl., BGH, Urt. v. 28.6.2018 – 3 StR 23/18, NStZ 2018, 734)). Die Stärkegrade beziehen sich auf verschiedene Zeitpunkte, was zur Folge hat, dass an den dringenden Tatverdacht zum Zeitpunkt der Anklageerhebung stets höhere Anforderungen zu stellen sind als an den hinreichenden (OLG Koblenz StV 1994, 316; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn 6; KK/Graf, § 112 Rn 6; a.A. LR-Lind, § 112 Rn 20; LR-Stuckenberg, § 203 Rn 12 ff.; Pfordte, a.a.O.). Trotz erheblicher Verdachtsmomente kann es an einem "dringenden Tatverdacht" aber fehlen, wenn Strafverfolgungsbehörden gebotene Untersuchungen unterlassen haben und wegen dieser Defizite – ohne weitere zeitaufwendige Nachforschungen – nicht (mehr) mit einer Verurteilung des Täters in einer HV gerechnet werden kann (OLG Karlsruhe StV 2004, 325, aber BGH, Beschl. v. 6.4.2022 – StB 1BGHStZ-RR 2022, 187 [Ls.]).
Rdn 4711
2.a) Der "dringende" Tatverdacht darf nur aus bestimmten Tatsachen, nicht nur aus bloßen Vermutungen (KK/Graf, § 112 Rn 7; BGH StV 2017, 434 [Ls.; für TÜ]; KG StRR 2010, 354; OLG Bremen StV 2010, 581; LG Dresden StV 2013, 163) oder aus möglichen künftigen Ermittlungsergebnissen (LG Frankfurt StV 2009, 477) abgeleitet werden. Allerdings steht z.B. der Umstand, dass sich die Schadenshöhe eines Vermögensdelikts noch nicht exakt beziffern lässt, der Annahme eines dringenden Tatverdachts nicht entgegen; es muss lediglich mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit feststehen, dass (neben den weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des Vermögensdelikts) ein Vermögensschaden vorliegt, wobei sich diese Einschätzung nach dem jeweiligen Stand der Ermittlungen richtet (KG NStZ-RR 2014, 374). Ist bereits eine, wenn auch noch nicht rechtskräftige Verurteilung erfolgt, so ist für die Feststellung des dringenden Tatverdachts vor allem auf das Urteil zurückzugreifen (OLG Hamm, Beschl. v. 7.1.2020 – 3 Ws 606/19; zur Beurteilung des dringenden Tatverdachts während laufender HV und zur Beurteilung durch das Beschwerdegericht → Haftbeschwerde, Teil H Rdn 2615; zum dringenden Tatverdacht vor der Revisionsentscheidung BGH, Beschl. v. 6.4.2022 – StB 11/22, NStZ-RR 2022, 187 [Ls.]; s.a. Burhoff, HV, Rn 2100 ff. m.w.N.; zum hinreichenden Tatverdacht → Eröffnungsbeschluss, Teil E Rdn 2387).
Rdn 4712
b) Zum dringenden Tatverdacht ist hinzuweisen auf folgende Rspr.:
Rdn 4713
Dringender Tatverdacht ist verneint worden in folgenden
▪ |
wenn "Aussage gegen Aussage" steht und,
▪ |
keine Erkenntnisse vorliegen, die für oder gegen die Richtigkeit der jeweiligen Angaben sprechen (OLG Koblenz StV 2002, 313; LG Düsseldorf StV 2014, 228), |
▪ |
... | |