1 Leitsatz
Es ist rechtlich nicht möglich, dass Nachbarn den Grenzverlauf zwischen 2 benachbarten Grundstücken mit öffentlich-rechtlicher Wirkung verbindlich festlegen. Eine solche Vereinbarung zwischen Nachbarn vor Beginn einer baulichen Maßnahme kann jedoch im Einzelfall eine grobe Fahrlässigkeit des Überbauers i. S. v. § 912 BGB ausschließen, wenn der Grenzverlauf anhand von objektiv nachvollziehbaren Kriterien zwischen den Nachbarn festgelegt wird.
2 Normenkette
§ 912 BGB
3 Das Problem
K ist seit dem Jahr 2018 Eigentümerin des Grundstücks 1. Sie beabsichtigt, das Grundstück mit einem Mehrfamilienhaus zu bebauen. Das Nachbargrundstück 2 ist seit Langem in Wohnungseigentum aufgeteilt. Im Jahr 1990 errichteten die damaligen Wohnungseigentümer einen Anbau als Windfang mit Glasfront. Der Verlauf der Grundstücksgrenze war weder durch einen Grenzstein markiert, noch wurde vor Errichtung des Anbaus die Grenze förmlich vermessen. Unstreitig ist, dass der Anbau die Grundstücksgrenze zum Nachbargrundstück um 0,2 – 0,3 m überbaut. K meint, mangels damaliger Grenzfeststellung müsse sie den Überbau nicht dulden und klagt gegen die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer und die Wohnungseigentümer auf Herausgabe. An ihrem Recht würde auch eine Vereinbarung zwischen den damaligen Eigentümern nichts ändern. Darüber hinaus behauptet K, der Anbau werde baurechtswidrig als Wartezimmer genutzt. Zudem entspreche er nicht den erforderlichen Brandschutzvorschriften.
4 Die Entscheidung
Ohne Erfolg! K habe keinen Anspruch gegen die Beklagten auf Herausgabe des überbauten Grundstücksteils und Duldung des Abrisses. K habe den Überbau entsprechend § 912 Abs. 1 BGB zu dulden. Hiernach habe der Nachbar den Überbau zu dulden, wenn der Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut hat, ohne dass ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, es sei denn, dass der Nachbar vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung Widerspruch erhoben habe. Diese Vorschrift sei entsprechend anzuwenden bei einem nachträglichen Überbau, etwa durch Errichtung eines Anbaus. Die damaligen Wohnungseigentümer hätten nicht grobfahrlässig gehandelt. Nach der Beweisaufnahme stehe fest, dass man sich bei der Errichtung des Anbaus – im Ergebnis zu Unrecht – sicher gewesen sei, dass er die Grundstücksgrenze nicht überschreitet. In dem Absehen von der Einholung eines förmlichen Gutachtens zur Grenzfeststellung liege allenfalls eine leichte Fahrlässigkeit. Die Duldungspflicht entfalle auch nicht aufgrund einer etwaigen Baurechtswidrigkeit des Anbaus. Zwar könne eine über die Grenzverletzung hinausgehende Beeinträchtigung des überbauten Grundstücks einer Duldungspflicht entgegenstehen (Hinweis auf BGH, Urteil v.19.9.2008, V ZR 152/07, NJW-RR 2009 S. 24 ff.). Eine solche liege jedoch weder in einer etwaigen baurechtswidrigen Nutzung des Windfangs als Warteraum noch in einer etwaigen Unvereinbarkeit mit Brandschutzvorschriften. Vielmehr sei erforderlich, dass eine Beeinträchtigung insoweit vorliegt, als der gegenwärtige Zustand aus rechtlichen Gründen ohnehin nicht aufrechterhalten werden könne.
Hinweis
Ob man als Nachbar einen Überbau dulden muss, hängt von seiner "Qualität" ab. Dazu muss man unterscheiden:
- Von einem gutgläubigen (auch: entschuldigter unrechtmäßiger) Überbau ist zu sprechen, wenn die Tatbestandvoraussetzungen des § 912 Abs. 1 BGB vorliegen. Es muss also der Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut haben, ohne dass ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Dies ist auch möglich, wenn beide Grundstücke zunächst im Eigentum einer Person stehen (Eigengrenzüberbau). Dann muss man klären, welches der Grundstücke das "Stammgrundstück" ist, also das Grundstück, dem der Überbau zuzuordnen ist. Einen gutgläubigen Überbau muss der Nachbar dulden.
- Von einem rechtmäßigen Überbau spricht man, wenn der Nachbar einem Überbau zustimmt. Auf den rechtmäßigen Überbau ist § 912 Abs. 1 BGB grundsätzlich nicht anwendbar. Einen rechtmäßigen Überbau muss der Nachbar dulden.
- Von einem rechtswidrigen Überbau spricht man, wenn die Voraussetzungen des § 912 BGB nicht vorliegen und der Nachbar auch nicht zugestimmt hat. Einen rechtswidrigen Überbau muss der Nachbar nicht dulden.
Im Fall liegt ein gutgläubiger Überbau vor. Zwar dürfte die Besonderheit hier darin bestehen, dass nicht alle Wohnungseigentümer die bauliche Veränderung vorgenommen hatten und daher eigentlich nur der "Bauherr" die Grundstücksgrenzen überbaut hat. Dies führt aber nur dazu, dass die anderen Wohnungseigentümer gutgläubig waren.
- Im aktuellen Recht wäre nach § 9a Abs. 2 WEG die Klage nur noch gegen die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zu richten.
5 Entscheidung
AG Braunschweig, Urteil v. 6.7.2020, 112 C 43/19