Leitsatz
Die Grundsätze der Effektivität und des Vertrauensschutzes stehen einer nationalen Regelung entgegen, die rückwirkend die Frist verkürzt, innerhalb derer die Erstattung von als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gefordert werden kann, wenn diese unter Verstoß gegen Bestimmungen der 6. EG-RL erhoben wurden, die – wie deren Art. 11 Teil A Abs.1 – unmittelbare Wirkung haben.
Normenkette
Art. 11 Teil A Abs.1 der 6. EG-RL (§ 10 Abs. 1 UStG)
Sachverhalt
Marks und Spencer hatten an Unternehmen Verkaufsgutscheine unter Nennwert verkauft. Diese hatten sie an Dritte weiterverkauft oder verschenkt, die sie bei Marks und Spencer zum Nennwert eingelöst haben.
Die britische Finanzverwaltung hatte sich zwar der Entscheidung des EuGH zur Besteuerungsgrundlage/Bemessungsgrundlage (nicht der Nennwert, sondern der Betrag, den Marks und Spencer tatsächlich für den Verkauf erhalten hatte) angeschlossen. Der Gesetzgeber hatte aber die ursprünglich auf sechs Jahre geregelte Frist für Erstattung zu Unrecht einbehaltener Steuer unter Hinweis auf die angespannte Haushaltslage ohne Übergangsregelung auf nur drei Jahre verkürzt.
Entscheidung
Der EuGH entschied, dass einer solchen Regelung der Vertrauensschutz entgegenstehe, wenn die neue Regelung keine Übergangsfrist vorsieht, die ausreicht, dass der Einzelne nach Erlass der neuen Regelung die Erstattungsansprüche, die er unter der alten Regelung hätte geltend machen können, noch geltend machen kann.
Kurz gesagt: Bei Verkürzung einer Frist für die Geltendmachung eines Rechts muss eine Übergangsregelung so bemessen sein, dass sie demjenigen, in dessen Rechte eingegriffen wird, wenigstens die realistische Möglichkeit einräumt, sein Recht noch geltend zu machen. Ein fristloser Übergang ist ebenso unzulässig wie eine Übergangsregelung, die in ihrem zeitlichen Rahmen die Geltendmachung eines bestehenden Rechts utopisch erscheinen lässt.
Hinweis
Nicht selten werden als Werbe- und Verkaufsförderungsaktion Gutscheine unter Nennwert oder mit Rabatt verkauft. In dem vom EuGH entschiedenen Fall ging es – materiellrechtlich – zunächst um die Frage der Besteuerungsgrundlage/Bemessungsgrundlage: Was ist Bemessungsgrundlage nach Art. 11 Teil A Abs. 1 der 6. EG-RL/§ 10 Abs. 1 UStG, wenn ein Handelsunternehmen – wie Marks und Spencer – Einkaufsgutscheine an andere Unternehmer zu einem Preis verkauft, der niedriger als der Nennwert des Gutscheins ist, und diese den Gutschein an Dritte weiterverkaufen oder verschenken, die bei dem Handelsunternehmen den Gutschein zum Nennwert einlösen? Ist es
- der Nennwert des Gutscheins oder
- der Betrag, den der Lieferant als Gegenleistung für den Verkauf des Gutscheins erhalten hat?
Nach den Urteilen des EuGH vom 24.10.1996, RS. C-288/94 – Argos Distributers – (UVR 1997, 15) und C-317/94 – Elida Gibbs – (UVR 1996, 391) ist Bemessungsgrundlage der Betrag, den der Verkäufer des Gutscheins tatsächlich erhalten hat, also nicht der Nennwert des Gutscheins. Der EuGH hat diese Entscheidungen im Besprechungsurteil erneut bestätigt. Die deutsche Finanzverwaltung wollte diese Rechtsprechung nicht anwenden; die Bundesrepublik hat sich deshalb eine Kommissionsklage eingehandelt, deren Ausgang damit besiegelt sein dürfte (Schlussantrag des Generalanwalts vom 20.9.2001, RS. C-427/94). Entsprechende Fälle müssen Sie offen halten.
Denken Sie daran, dass sich der Einzelne auf die Richtlinie berufen kann, wenn diese nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt worden ist. Voraussetzung ist aber, dass die Richtlinienregelung insoweit inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist. Das gilt auch, soweit die nationale Gesetzgebung zwar die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt hat, aber die Anwendung der ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie durch die Finanzverwaltung dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel zuwiderläuft.
Es ist deshalb wichtig, auch die Rechtsprechung des EuGH zu kennen, schon angesichts der nicht vollständigen nationalen Umsetzung der Richtlinie und nicht zuletzt deshalb, weil die Finanzverwaltung die Rechtsprechung des EuGH bzw. die richtlinienkonformen Entscheidungen des BFH nur zögerlich umsetzt und Entscheidungen nicht veröffentlicht.
Hat ein Staat die Richtlinie unvollständig umgesetzt oder die nationale Verwaltung eine Regelung nicht richtlinienkonform angewandt, hat der Betroffene ggf. einen Anspruch auf Erstattung der rechtsgrundlos bezahlten Beträge. Für die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs bei rechtsgrundlos gezahlter Umsatzsteuer gilt: Beim Fehlen einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es Sache des nationalen Rechts, die Modalitäten der Erstattung zu regeln. Diese Regelung – d.h. das nationale Verfahrensrecht – darf allerdings nicht so ausgestaltet sein, dass dem Steuerpflichtigen die Geltendmachung der von der Richtlinie verliehenen Rechte unmöglich gemacht wird. D.h. der Betroffene muss eine Rechtsverletzung, eine fehlerhafte Umsetzung oder Anwendung einer Gemeinschaftsregelung genauso geltend machen können, wie eine Verletzung nat...