Dr. Tibor Szocs, Dr. Ádám Tóth
I. Einführung
Rz. 42
Das ungarische Erbrecht erhielt im Jahre 2013 seine heutige Form. Die heutige Rechtsquelle des materiellen Erbrechts ist das neue Bürgerliche Gesetzbuch (Gesetz Nr. V aus dem Jahre 2013; im Folgenden: Ptk.), welches das frühere Bürgerliche Gesetzbuch außer Kraft gesetzt hat. Die Vorschriften des neuen Ptk. sind auf die ab 15.3.2014 eingetretenen Erbfälle anzuwenden. In das neue ungarische Erbrecht wurden auch speziell ungarische Rechtsinstitute übernommen, die nicht einmal in den Zeiten des dunkelsten politischen Terrors aufgehoben wurden. Von diesen ist vor allem die sog. Rückfallerbfolge hervorzuheben, deren vorrangiges Ziel ist, das von der Familie auf den Erblasser übertragene Vermögen vor der Erbberechtigung des Ehegatten wieder der Familie zukommen zu lassen.
Rz. 43
Das neue Ptk. hat die gesetzliche Erbfolge in vielen Punkten geändert. Die Vorschriften über die Erbfolge des überlebenden Ehegatten wurden wesentlich geändert, mag er zusammen mit den Abkömmlingen oder – was ein Novum ist – zusammen mit den Eltern des Erblassers erben. Bei der Erbfolge der Vorfahren hat das neue Gesetz einen neuen Stamm (Parentel) eingefügt; demgemäß ist neben dem bisherigen Stamm der Eltern und der Großeltern auch der Stamm der Urgroßeltern erbberechtigt. In gewisser Hinsicht wurden die Regeln der Rückfallerbfolge strenger. Die Formvorschriften des Testaments wurden in mehreren Punkten vereinfacht, und neue Testamentsformen wurden eingeführt. Unter bestimmten Voraussetzungen ist nunmehr auch die Nacherbschaft zulässig. Das neue Recht hat darüber hinaus die Höhe des Pflichtteils herabgesetzt. Das neue Ptk. erkennt das gesetzliche Erbrecht des Lebenspartners gänzlich nicht an und tritt auch von der schüchternen Öffnung des früheren Gesetzes zurück. Das Buch VII des Ptk. über das Erbrecht hat auch in der Struktur eine wesentliche Änderung erfahren, indem es – den Vorrang der Willensautonomie des Erblassers anerkennend – zuerst die Vorschriften der testamentarischen Erbfolge und im Anschluss daran die Vorschriften der gesetzlichen Erbfolge abhandelt.
II. Gesetzliche Erbfolge
1. Die gesetzliche Erbfolge im Allgemeinen
Rz. 44
Die Erbfolge tritt ein aufgrund einer Verfügung von Todes wegen (letztwillige Verfügung) oder aufgrund Gesetzes. Ist keine letztwillige Verfügung vorhanden, ist die gesetzliche Erbfolge maßgebend. Sind keine Erben vorhanden, geht der Nachlass auf den ungarischen Staat über (siehe Rdn 85 ff.).
Rz. 45
Die Regeln der gesetzlichen Erbfolge kennen zwei unterschiedliche Regime der Erbfolge: die allgemeinen Vorschriften der gesetzlichen Erbfolge und die sog. Rückfallerbfolge, eine Art Sondererbfolge.
2. Das gesetzliche Erbrecht der Abkömmlinge
Rz. 46
Nach der allgemeinen Vorschrift der gesetzlichen Erbfolge sind vor allem die Kinder des Erblassers zur Erbfolge berufen, und zwar untereinander zu gleichen Teilen. Das ungarische Recht kennt das Repräsentationsprinzip (ius repraesentationis), d.h., beim Wegfall (z.B. Vorversterbens) eines Abkömmlings erben dessen Abkömmlinge gemeinsam einen Erbteil in der Größe, den ihr weggefallener Vorfahr allein geerbt hätte. Hat ein weggefallener Abkömmling des Erblassers keine Abkömmlinge, erhöht sein Erbteil den Erbteil der anderen Abkömmlinge. Die Erbberechtigung der Abkömmlinge als gesetzliche Erben kommt der Erbberechtigung aller anderen Erben zuvor.
3. Die gesetzliche Erbberechtigung des Ehegatten
a) Allgemeines
Rz. 47
Das Ehegattenerbrecht richtet sich im ungarischen Recht danach, wer neben dem überlebenden Ehegatten zur gesetzlichen Erbfolge berufen ist.
Rz. 48
Sind keine Abkömmlinge vorhanden und sind die Eltern des Erblassers schon vor dem Erblasser verstorben, erbt der Ehegatte nach der allgemeinen Erbfolge und wird Alleinerbe.
Rz. 49
Neben den Abkömmlingen stehen dem Ehegatten die folgenden Rechte zu:
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Er ist zum Nießbrauch berechtigt, und zwar an der mit dem Erblasser gemeinsam bewohnten Wohnung und den zugehörenden Einrichtungs- und Ausstattungsgegenständen. Dieser Nießbrauch dauert bis zum Tod des Ehegatten. Nach dem neuen Ptk. kann dieser Nießbrauch nicht beschränkt werden. Eine Ablösung dieses Witwenrechts kann – im Unterschied zum alten Recht – nur noch vom nießbrauchsberechtigten Ehegatten beantragt werden; er kann die Ablösung – für die Zukunft – zu jeder Zeit beantragen. Die Ablösung des Nießbrauchs kann unter Berücksichtigung der angemessenen Interessen des Ehegatten und der Abkömmlinge erfolgen. Aus dem abgelösten Vermögen steht dem Ehegatten – in natura oder in Geld – ein Kindesteil zu. Das Recht des überlebenden Ehegatten, die Ablösung des Nießbrauchs zu jeder Zeit, d.h. sogar etwa 30 Jahre nach dem Tod des Erblassers, zu beantragen, kann gegebenenfalls auch dazu führen, dass die im Vergleich zum Erblasser viel jüngere Witwe die Ablösung des Nießbrauchs nur kurz vor ihrem Tod beantragt und so aktives Vermögen anstelle des mit dem Tod erlöschenden Nießbrauchs erhält. Dadurch kann sie ihren eigenen – gegebenenfalls mit dem Erblasser nicht gemeinsamen – gesetzlichen... |