Dr. Tibor Szocs, Dr. Ádám Tóth
1. Allgemeines
Rz. 225
Das ungarische Recht kennt ein umfassendes, justizförmiges Nachlassverfahren. Obwohl das ungarische materielle Recht den Grundsatz der ipso iure-Erbfolge verfolgt, ist die Durchführung eines Nachlassverfahrens i.d.R. notwendig, damit der Erbe oder sonstige Berechtigte (z.B. Vermächtnisnehmer) seine Rechtsstellung bzw. den Erwerb von Todes wegen vor den Behörden und gegenüber Dritten amtlich nachweisen kann. Dieses Verfahren gewährt den Betroffenen einen einheitlichen rechtlichen Rahmen, den Nachlass unter Mitwirkung des Notars einvernehmlich abzuwickeln. Zweck des Nachlassverfahrens ist es, den ipso iure bereits erfolgen Rechtserwerb (mit deklaratorischer Wirkung) amtlich nachzuweisen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Betroffenen bestimmte Rechtshandlungen mit konstitutiver Wirkung im Rahmen dieses Verfahrens vornehmen (z.B. Durchführung der Nachlassteilung oder Befriedigung von Nachlassverbindlichkeiten mit einem Vergleich; siehe Rdn 299 f.).
Rz. 226
Beim Nachlassverfahren handelt es sich um ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dem Verfahren liegen folgende Rechtsquellen zugrunde:
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Primäre Rechtsquelle ist das Hetv. (Gesetz Nr. XXXVIII vom Jahre 2010 über das Nachlassverfahren). |
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In allen verfahrensrechtlichen Fragen, für die im Hetv. keine besondere Regelung vorgesehen ist, ist die Zivilprozessordnung subsidiär anzuwenden. |
Rz. 227
Das Nachlassverfahren gehört seit 1886 in die sachliche Zuständigkeit der Notare. Eine ungarische Besonderheit ist jedoch, dass der Notar – abweichend von einigen mitteleuropäischen Rechtsordnungen – nicht als gerichtlich bestellter Gerichtskommissar tätig ist. Der Notar selbst übt im Nachlassverfahren die Befugnisse eines Nachlassgerichts aus (ex lege-Zuständigkeit). Gemäß § 2 Abs. (2) Hetv. entfalten die Verfahrenshandlungen des Notars die gleichen Rechtswirkungen wie ein Gericht erster Instanz. Die ungarischen Notare, soweit sie ein Nachlassverfahren durchführen, werden als "Gericht" i.S.v. Art. 3 Abs. (2) EuErbVO betrachtet.
Rz. 228
Dass der ungarische Notar im Nachlassverfahren in seiner Eigenschaft als Gericht tätig ist, wird auch durch die folgenden Merkmale des Verfahrens hervorgehoben:
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Der Notar erlässt im Nachlassverfahren sowohl in der Sache als auch in verfahrensrechtlichen Fragen eine formelle Entscheidung (Beschluss), ebenso wie ein Gericht. |
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Das ordentliche Rechtsmittel gegen den notariellen Beschluss ist die Berufung; im Berufungsverfahren wird eine notarielle Entscheidung so behandelt, als wäre sie von einem Kreisgericht erlassen worden. |
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Der Notar ist im Nachlassverfahren an feste Zuständigkeitsvorschriften gebunden. Er hat im Verfahren von Amts wegen zu prüfen, ob seine internationale bzw. örtliche (siehe Rdn 261 ff.) Zuständigkeit feststeht. |
Rz. 229
Der Notar ist immerhin nicht befugt, Streitigkeiten zwischen den Erben bzw. zwischen den Erben und sonstigen Betroffenen mit endgültiger Wirkung zu entscheiden. Dies würde über den Rahmen des Nachlassverfahrens hinausgehen und ist nur im Wege der streitigen Gerichtsbarkeit (z.B. in einem Erbschaftsprozess) möglich.
2. Notwendigkeit des Nachlassverfahrens; Nachlassverzeichnis
Rz. 230
In einigen Fällen ist die Einleitung eines Nachlassverfahrens obligatorisch. Das Gesetz bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass es die Fälle bestimmt, in denen die zuständige Behörde (Gemeindeverwaltung) ein Nachlassverzeichnis (siehe Rdn 242 ff.) von Amts wegen aufnehmen muss. Die Gründe für die obligatorische Aufnahme eine...