Dr. Tibor Szocs, Dr. Ádám Tóth
1. Die Übergabe des Nachlasses
a) Funktion und Rechtsnatur der Nachlassübergabe
Rz. 292
Als Ergebnis des Nachlassverfahrens erlässt der Notar i.d.R. einen Beschluss über die Übergabe des Nachlasses. Der Nachlassübergabebeschluss ist die wichtigste Form der notariellen Entscheidungen in Nachlassangelegenheiten. Es handelt sich um eine Übergabe des Nachlasses an den Erben im rechtlichen – und nicht im physischen – Sinne. Die Nachlassübergabe bedeutet gem. § 6 Abs. (1) lit. a) Pkt. die amtliche Feststellung,
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welchen Personen |
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aus welchem Rechtstitel (Berufungsgrund) |
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welche Rechte bzw. welche Verbindlichkeiten |
bezüglich der einzelnen Nachlassgegenstände oder Nachlassteile zustehen bzw. belasten.
Rz. 293
Der ungarische notarielle Nachlassübergabebeschluss ist vergleichbar mit dem österreichischen Rechtsinstitut des Einantwortungsbeschlusses; wichtiger Unterschied ist jedoch, dass der Nachlassübergabebeschluss deklaratorischer Natur ist. Da das ungarische materielle Erbrecht den Grundsatz der ipso iure-Erbfolge kennt, hat der Nachlassübergabebeschluss die rechtliche Funktion, die im Zeitpunkt des Todes des Erblassers in den Eigentumsverhältnissen bereits von Rechts wegen eingetretenen Änderungen gegenüber Dritten und vor den verschiedenen Behörden amtlich zu bescheinigen.
Rz. 294
Der Nachlassübergabebeschluss bescheinigt die Erbfolge nach dem Erblasser (wer und aus welchem Berufungsgrund und zu welchem Anteil zur Erbfolge berufen ist) sowie den Bestand des Nachlasses (den Kreis der zum Nachlass gehörenden Vermögensgegenstände sowie deren Wert).
Rz. 295
Gegen den Nachlassübergabebeschluss ist Berufung statthaft (siehe Rdn 309); mangels Berufung erwächst der Beschluss in formelle Rechtskraft. Der Nachlassübergabebeschluss hat somit eindeutig die Rechtsnatur einer Entscheidung i.S.v. Art. 3 Abs. (1) lit. g) EuErbVO. Er kann seine Rechtswirkungen in einem anderen Mitgliedstaat im Wege einer Anerkennung nach Kapitel IV der Verordnung entfalten.
b) Übergabe des Nachlasses mit voller bzw. mit vorläufiger Wirkung
Rz. 296
Der Notar kann den Nachlass mit voller oder mit vorläufiger Wirkung übergeben. Die Nachlassübergabe erfolgt mit voller Wirkung, wenn der Übergabe kein gesetzliches Hindernis entgegensteht und es unter den Erben keinen Erbstreit gibt bzw. es keinen Streit zwischen den Nachlassgläubigern und den Erben gibt.
Rz. 297
In allen anderen Fällen (d.h. wenn die Voraussetzungen der Übergabe mit voller Wirkung nicht vorliegen) übergibt der Notar den Nachlass mit vorläufiger Wirkung. Bei einer vorläufigen Wirkung kann der Erbe, dem der Nachlass übergeben worden ist, den Nachlass in Besitz nehmen, er darf darüber jedoch 30 Tage nicht verfügen. Diejenige Partei, deren Ansprüche unberücksichtigt blieben, kann innerhalb von 30 Tagen nach Eintritt der Rechtskraft des Nachlassübergabebeschlusses eine Nachlassklage erheben.
c) Übergabe des Nachlasses ohne Verhandlung
Rz. 298
Hat der Notar den Nachlassübergabebeschluss ohne mündliche Verhandlung (vgl. Rdn 265) erlassen, so muss der Beschluss im Wege einer förmlichen Zustellung (siehe Rdn 302) den Betroffenen mitgeteilt werden. In bestimmten Fällen kann der gesetzliche Erbe – bevor der Nachlassübergabebeschluss in Rechtskraft erwächst – die Anberaumung einer Nachlassverhandlung beantragen. Dies ist der u.a. Fall, wenn er die Erbschaft ausschlägt, mit einem anderen Erben einen Vergleich schließen möchte oder seinen Erbteil ganz oder teilweise einem Nachlassgläubiger (im Interesse der Begleichung der Gläubigeransprüche) übertragen (siehe Rdn 300) möchte. Über dieses Recht muss der gesetzliche Erbe in dem ohne mündliche Verhandlung erlassenen Nachlassübergabebeschluss belehrt werden.
d) Vergleiche im Nachlassverfahren
Rz. 299
In Ungarn erfolgt die Teilung des Nachlasses i.d.R. im Rahmen des Nachlassverfahrens. Hierbei haben die Erben einen relativ großen Spielraum. Sie können während des Nachlassverfahrens von der gesetzlichen oder testamentarischen Erbfolge durch einen Erbteilungsvergleich abweichen. Dieser Vergleich wirkt auf den Zeitpunkt der Eröffnung der Erbfolge zurück: Schließen die Erben einen solchen Vergleich während des Nachlassverfahrens, so werden sie betrachtet, als hätten sie die aufgrund des Vergleichs ihnen zustehenden konkreten Nachlassgegenstände bereits im Zeitpunkt des Todes des Erblassers erworben. Kommt ein solcher Vergleich zustande, so bildet er die rechtliche Grundlage der Nachlassübergabe: Der Notar hat in diesem Fall die Nachlassgegenstände unter Berücksichtigung des Erbteilungsvergleichs den einzelnen Erben zu übergeben. Der Erbteilungsvergleich erscheint somit in der rechtlichen Form eines Nachlassübergabebeschlusses; es handelt sich daher auch hier um eine "Entscheidung" i.S.v. Art. 3 Abs. (1) lit. g) EuErbVO (und nicht um einen "Vergleich" nach lit. h)).
Rz. 300
Eine weitere Art des Vergleichs, der im Laufe des Nachlassverfahrens geschlossen werden kann, ist der sog. Überlassungsvergleich. Mit diesem Vergleich kann der Erbe seinen Erbteil ganz oder teilweise bzw. einzelne N...