Detlef Burhoff, Annika Hirsch
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Grds. findet eine HV ohne den Angeklagten nicht statt. |
2. |
Nach § 231 Abs. 2 kann das Gericht jedoch ohne den Angeklagten verhandeln, wenn er sich eigenmächtig aus der HV entfernt oder eigenmächtig einer Fortsetzungsverhandlung fernbleibt. |
3. |
Ist der Angeklagte in der Ladung auf die Möglichkeit der Verhandlung in seiner Abwesenheit hingewiesen worden, kann das Gericht nach § 232 ohne ihn verhandeln, wenn bestimmte Rechtsfolgen nicht überschritten werden. |
4. |
Schließlich kann das Gericht nach § 233 auch ohne den Angeklagten verhandeln, wenn er vom Erscheinen entbunden worden ist. |
Rdn 3454
Literaturhinweise:
Gollwitzer, Die Verfahrensstellung des in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Angeklagten, in: Festschrift für Herbert Tröndle, 1989, S. 455
Hauck, Richterlicher Anpassungsbedarf durch den EU-Rahmenbeschluss zur Anerkennung strafgerichtlicher Entscheidungen in Abwesenheit des Angeklagten?, JR 2009, 141
Julius, Zur Disponibilität des strafprozessualen Anwesenheitsgebots, GA 1992, 295
Laier, Mitwirkungspflicht des Angeklagten zur Vermeidung einer Verfahrensaussetzung, NJW 1977, 1139
Laue, Die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten, JA 2010, 294
Maatz, Die Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten. Zur Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts in Fällen des § 231 Abs. 2 StPO, DRiZ 1991, 200
Neuhaus, Der Grundsatz der ständigen Anwesenheit des Angeklagten in der strafprozessualen Hauptverhandlung 1. Instanz unter besonderer Berücksichtigung des § 231a StPO, 2000
Rieß, Die Durchführung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten, JZ 1975, 265
Weßlau, Kann das Revisionsgericht an tatrichterliche Feststellungen "zum eigenmächtigen" (§ 231 Abs. 2 StPO gebunden sein, StV 2014, 236.
Rdn 3455
1. Grds. findet eine HV ohne den Angeklagten nicht statt, da dieser i.d.R. an der HV teilnehmen muss (→ Anwesenheitspflicht des Angeklagten, Teil A Rdn 420). Erscheint der Angeklagte aber in der HV nicht (→ Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung, Teil A Rdn 460), stellt sich für den Verteidiger die Frage, ob er, um Zwangsmittel gegen den Mandanten zu verhindern, darauf drängen soll, auch ohne diesen zu verhandeln.
☆ Die Verhandlung ohne den Angeklagten sollte, um dessen Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zu beeinträchtigen, allerdings die Ausnahme bleiben (zu den Verfahrensrechten eines abwesenden Angeklagten EuGH NJW 1999, 2353; 2001, 2387; zur HV in Abwesenheit s.a. Laue JA 2010, 294, 297 m.w.N.).ohne den Angeklagten sollte, um dessen Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zu beeinträchtigen, allerdings die Ausnahme bleiben (zu den Verfahrensrechten eines abwesenden Angeklagten EuGH NJW 1999, 2353; 2001, 2387; zur HV in Abwesenheit s.a. Laue JA 2010, 294, 297 m.w.N.).
Rdn 3456
2.a) Entfernt sich der Angeklagte eigenmächtig aus der HV oder bleibt er einer Fortsetzungsverhandlung (→ Unterbrechung der Hauptverhandlung, Teil U Rdn 3222) eigenmächtig fern, kann nach § 231 Abs. 2 ohne ihn verhandelt werden. Die Vorschrift gilt auch im Berufungs- ([inzidenter] BGHSt 59, 187), aber nicht im Bußgeldverfahren (OLG Bamberg VRR 2012, 276).
Rdn 3457
b) Eigenmächtigkeit ist nach der neueren Rspr. des BGH anzunehmen, wenn der Angeklagte ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht nachkommt (BGHSt 37, 249; 56, 298, 59, 187; BGH NStZ 2003, 561; StV 2009, 338; StRR 2015, 342 m. Anm. Deutscher, insoweit nicht in NStZ-RR 2015, 278; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.2.2020 – 1 Rv 21 Ss 36/20). Es kommt entgegen der früheren st.Rspr. des BGH (zuletzt BGH NJW 1991, 1367) nicht (mehr) darauf an, ob der Angeklagte durch Missachtung seiner Anwesenheitspflicht den Gang der Rechtspflege stören und die HV unwirksam machen wollte (BGHSt 56, 298; BGH StV 2009, 338).
Rdn 3458
Entscheidend für die Annahme von Eigenmacht sind – ebenso wie bei der Frage der genügenden Entschuldigung nach § 230 Abs. 2 (→ Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung, Teil A Rdn 460) – die Umstände des Einzelfalls, wobei auch das Gewicht des erhobenen Tatvorwurfs und der erforderlichen Aufwandes für eine ggf. fragliche Vorführung zu berücksichtigen sind (BGHSt 59, 187 für inhaftierten Angeklagten; KK/Gmel/Peterson, § 231 Rn 3; s.a. → Berufung, Verwerfung, Ausbleiben des Angeklagten, genügende Entschuldigung, Teil B Rdn 837). Die Eigenmacht muss dem Angeklagten, ggf. im → Freibeweisverfahren, Teil F Rdn 1997, nachgewiesen werden (dazu BGHSt 48, 264; BGH NStZ 1999, 418; 2010, 585; NStZ-RR 2001, 333; StRR 2015, 342 m. Anm. Deutscher, insoweit nicht in NStZ-RR 2015, 278; Beschl. v. 19.8.2021 – 4 StR 410/20, NStZ-RR 2023, 199 [Ci/Ni]; OLG Celle StV 2014, 206; OLG Dresden, Beschl. v. 8.1.2014 – 3 OLG 25 Ss 949/13; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.2.2020 – 1 Rv 21 Ss 36/20), und zwar möglicherweise noch im Revisionsverfahren (BGH NStZ 2010, 585; OLG Celle, a.a.O.; OLG Karlsruhe, a.a.O.; s. aber BGH StV 2012, 72 und Weßlau StV 2014, 236). Es obliegt aber nicht dem Angeklagten, glaubhaft zu machen...