Das Wichtigste in Kürze:

1. Die Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) erlaubt die Verlesung der in einem Zeugnis oder einem Gutachten enthaltenen Erklärungen von SV, die für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt sind.
2. Zulässig ist nur die Verlesung von Gutachten allgemein vereidigter SV. Grds. können alle Gutachten verlesen werden.
3. § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) enthält keine inhaltliche Beschränkung bzw. keine Beschränkung des Umfangs der Verlesung.
4. Der Verteidiger muss sich frühzeitig mit der Möglichkeit der Verlesung eines SV-Gutachtens beschäftigen und ggf. der vom Vorsitzenden angeordneten Verlesung widersprechen.
 

Rdn 3474

 

Literaturhinweise:

Breyer, StPO: Justizmodernisierungsgesetz, Die 12 wichtigsten Änderungen im Strafverfahren, PA 2004, 174

Burhoff, Verfahrensrechtliche Änderungen im Strafverfahren durch das 1. JuMoG und das OpferRRG, ZAP F. 22, S. 389

Hirtz/Sommer, 1. Justizmodernisierungsgesetz, 2004

Knauer/Wolf, Zivilprozessuale und strafprozessuale Änderungen durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz – Teil 2: Änderungen der StPO, NJW 2004, 2932

Krüger, Erklärungen von Behörden, Sachverständigen und Ärzten im Strafprozess, in: Festgabe für Imme Roxin, 2012, S. 601

Neuhaus, Die Änderungen der StPO durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004, StV 2005, 47

Sommer, Moderne Strafverteidigung – Strafprozessuale Änderungen des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes, AnwBl. 2004, 506

ders., Moderne Strafverteidigung – Strafprozessuale Änderungen des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes, StraFo 2004, 295

s.a. die Hinw. bei → Urkundenbeweis, Allgemeines, Teil U Rdn 3162.

 

Rdn 3475

1. Die durch das 1. JuMoG in die StPO eingefügte Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) erlaubt die Verlesung der in einem Zeugnis oder einem Gutachten enthaltenen Erklärungen von SV, die für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt sind. Diese können wie Behördengutachten verlesen werden (→ Verlesung von Behördengutachten, Teil V Rdn 3461). Sinn und Zweck dieser Reglung war eine Straffung der HV und Kosteneinsparungen, weil SV nicht in allen Fällen in der HV anwesend sein müssen. Nach der Gesetzesbegründung soll nur noch in Zweifelsfällen ihre Vernehmung erforderlich sein (BT-Drucks 15/1508, S. 26).

 

☆ Diese Regelung muss man m.E. kritisch sehen (a. Hirtz/Sommer , 1. Justizmodernisierungsgesetz, S. 92). Sie steht nämlich ggf. im Konflikt mit der sich aus § 244 Abs. 2 ergebenden →  Aufklärungs­pflicht des Gerichts , Teil A Rdn  422 , ( Meyer-Goßner/Schmitt , § 256 Rn 16) und dem sich aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d) MRK ergebenden Konfrontationsrecht des Angeklagten (dazu Hirtz/Sommer , 1. Justizmodernisierungsgesetz, S. 94). Das ist bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift zu beachten ( Hirtz/Sommer , a.a.O.).kritisch sehen (a. Hirtz/Sommer, 1. Justizmodernisierungsgesetz, S. 92). Sie steht nämlich ggf. im Konflikt mit der sich aus § 244 Abs. 2 ergebenden → Aufklärungs­pflicht des Gerichts, Teil A Rdn 422, (Meyer-Goßner/Schmitt, § 256 Rn 16) und dem sich aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d) MRK ergebenden Konfrontationsrecht des Angeklagten (dazu Hirtz/Sommer, 1. Justizmodernisierungsgesetz, S. 94). Das ist bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift zu beachten (Hirtz/Sommer, a.a.O.).

 

Rdn 3476

2. Zulässig ist nur die Verlesung von Gutachten allgemein vereidigter SV. Die allgemeine Vereidigung ist im Bundes- und Landesrecht geregelt (vgl. z.B. § 91 HandwO oder § 36 GewO; s.a. LR-Krause, § 79 Rn 10). Die Gutachten anderer SV können nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) verlesen werden.

 

Rdn 3477

Es können die Gutachten aller Fachrichtungen verlesen werden. § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) enthält keine Beschränkung. Die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks 15/1508, S. 26) nennt zwar konkret SV im Kfz-Gewerbe, dem Versicherungswesen und der Schriftkunde. Diese sind aber nur beispielhaft – "etwa" – angeführt. Daraus lässt sich also nicht ableiten, dass die Gutachten von allgemein vereidigten SV anderer Fachrichtungen nicht verlesen werden dürften. Damit erlaubt § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) grds. auch die Verlesung von Schuldfähigkeitsgutachten, von Glaubwürdigkeitsgutachten und Gutachten zu schwierigen wirtschaftlichen Zusammenhängen (krit. insoweit FA Strafrecht-Lang/Gabler, Teil 2 Kap. 4 Rn 268; dazu a. u. Teil V Rdn 3480 f.) sowie auch sog. Lichtbildvergleichsgutachten (OLG Düsseldorf zfs 2008, 704; zur unzulässigen Verlesung von DNA-Gutachten, BGH, Beschl. v. 3.9.2019 – 3 StR 291/19, NJW 2019, 3726).

 

☆ Gerade in dem Zusammenhang ist aber die →  Aufklärungspflicht des Gerichts , Teil A Rdn  422 , von erheblicher Bedeutung. § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) gilt zudem auch auf keinen Fall für SV-Gutachten, die für die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung eingeholt werden. Diese SV sind immer in der HV zu hören (§ 246a; Lang/Gabler , a.a.O.).Aufklärungspf...

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