1 Leitsatz
Eine Ladung zur Unzeit liegt jedenfalls in kleineren Wohnungseigentumsanlagen vor, wenn der Verwalter auf Heiligabend oder – in Kenntnis jüdischer Feiertage – bei jüdischen Eigentümern auf den Sederabend (Vorabend zum höchsten jüdischen Pessach-Fest) auf 18 Uhr einlädt. Auf Hinweis des betroffenen am Sederabend durch Religionsausübung verhinderten Eigentümers muss der (jüdische) Verwalter umladen.
2 Normenkette
§§ 23, 24 WEG
3 Das Problem
Wohnungseigentümerin K geht gegen mehrere Beschlüsse vor. Sie ist der Ansicht, es liege ein formeller Beschlussmangel vor. Ihr sei durch die Wahl des Versammlungstermins durch den Verwalter die Teilnahme verwehrt gewesen. Der Versammlungstag für die sehr kleine Wohnungseigentumsanlage sei der Sederabend gewesen, mit dem das Pessach-Fest eingeleitet werde. Als gläubige Jüdin sei ihr daher die Teilnahme an einer Eigentümerversammlung am selben Abend verwehrt gewesen. Da der Verwalter selbst Jude sei, habe er dies gewusst.
4 Die Entscheidung
Das LG meint, es liege ein formeller Beschlussmangel vor! Der Versammlungstag sei K nicht zumutbar gewesen. K habe sich aufgrund ihres Glaubens an der Teilnahme an einer Versammlung an diesem Abend gehindert gesehen und habe sich unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Rangs des Rechts auf ungestörte Religionsausübung auch gehindert sehen dürfen. Dem Verwalter sei dies aufgrund des damit begründeten Verlegungsantrags der K vor der Versammlung auch bekannt gewesen. Aufgrund der besonderen Umstände des Falls, insbesondere der Größe der Wohnungseigentumsanlage, und aufgrund der Tatsache, dass K bereits im Vorjahr an der Teilnahme verhindert gewesen sei, wäre der Verwalter nach Erhalt des Verlegungsgesuchs verpflichtet gewesen, einen Termin zu finden, der allen Wohnungseigentümern die Teilnahme an der Versammlung ermöglicht hätte.
Hinweis
- Bei der Terminierung einer Versammlung ist stets zu berücksichtigen, dass die Teilnahmemöglichkeit der Wohnungseigentümer an der Versammlung ein zentrales Mitgliedschaftsrecht ist, das durch eine "unzeitige" Terminbestimmung nicht verkürzt oder gar vereitelt werden darf. Ob eine Terminsbestimmung "unzeitig" ist, ist dabei aufgrund der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu ermitteln. Der Verwalter hat insoweit die Belange aller Wohnungseigentümer zu berücksichtigen. Jedenfalls in kleineren Wohnungseigentumsanlagen ist der Verwalter im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung verpflichtet, zu versuchen, jedem Wohnungseigentümer in zumutbarer Weise eine Versammlungsteilnahme zu ermöglichen (LG München I, Beschluss v. 19.7.2004, 1 T 3954/04, NZM 2005 S. 591).
- Die Anberaumung einer Versammlung innerhalb einer typischen Reisezeit (Ferienzeit) entspricht ausnahmsweise ordnungsmäßiger Verwaltung. Dies ist der Fall, wenn sichergestellt ist, dass die Wohnungseigentümer daran teilnehmen oder sich zumutbar vertreten lassen können, wenn es sich um eine Angelegenheit von besonderer Dringlichkeit handelt oder sofern die Zusammensetzung der konkreten Wohnungseigentümergemeinschaft nicht dagegen spricht; ggf. sind auch über § 24 Abs. 4 Satz 2 WEG hinausgehende Ladungsfristen im Einzelfall erforderlich (siehe auch LG Karlsruhe, Urteil v. 25.10.2013, 11 S 16/13, ZMR 2014 S. 93 und LG Karlsruhe, Urteil v. 7.10.2014, 11 S 8/14, ZWE 2015 S. 419).
- Unter Berücksichtigung der sich aus Art. 4 und 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ergebenden Wertungen ist den Wohnungseigentümern Gelegenheit zu geben, ihrem Recht auf Religionsausübung nachzugehen. Darauf beruht auch die Auffassung, wonach über den Wunsch einzelner Wohnungseigentümer, den Sonntagvormittag bis 11 Uhr von Versammlungen freizuhalten, grundsätzlich nicht hinweggegangen werden darf (BayObLG, Beschluss v. 25.6.1987, BReg. 2 Z 68/86, BayObLGZ 1987 S. 219). Ausgehend von diesem Grundgedanken ist zwar in der Regel – aber nicht allein – darauf abzustellen, welche Tage durch feiertagsgesetzliche Regelungen besonders geschützt sind. Auch Zeiten, die nicht als gesetzlicher Feiertag besonders geschützt sind, können nach den Umständen des Einzelfalls als "Unzeit" zu beurteilen zu sein, wenn sie für die Religionsausübung einzelner Wohnungseigentümer von erheblicher Bedeutung sind. So wäre etwa eine Versammlung am Abend des 24.12. stets zur Unzeit, da dieser als "Heiliger Abend" die anschließenden Weihnachtsfeiertage einleitet, obgleich es sich dabei um keinen eigenen gesetzlichen Feiertag handelt. Damit ist die Konstellation im vorliegenden Verfahren im Grundsatz vergleichbar. Das Pessach-Fest wird traditionell mit einem Abendgottesdienst und dem anschließenden Seder eingeleitet, einem Festmahl der gesamten Familie. Der Sederabend wird daher üblicherweise als Beginn des Pessach-Festes und regelmäßig auch der entsprechende Tag als dessen 1. Tag bezeichnet. Die Bedeutung des Sederabends ist im jüdischen Glauben unbestritten.
5 Entscheidung
LG München I, Urteil v. 20.2.2020, 36 S 16296/18