Entscheidungsstichwort (Thema)
Abwasserbeitrag. Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Gesetzgeberischer Gestaltungsauftrag. Unzulässige Rechtsausübung. Verwirkung. Pflichtverletzung. Ordnungsgemäße Aktenführung
Leitsatz (amtlich)
1. Es bestehen Bedenken, ob das baden-württembergische Kommunalabgabengesetz, soweit es nach dem Eintritt der Vorteilslage eine zeitlich unbegrenzte Heranziehung zu einem Beitrag (hier: Abwasserbeitrag) erlaubt, ohne gesetzliche Bestimmung einer zeitlichen Höchstgrenze für die Beitragserhebung dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit entspricht (im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143, juris Rn. 42 ff.).
2. Unabhängig von der Frage, ob sich durch seine Anwendung die Anforderungen des rechtsstaatlichen Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit an das KAG sicherstellen lassen, kann die Erhebung eines kommunalen Abwasserbeitrags gegen den auch im Verwaltungsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen.
3. Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung – als Unterfall des Grundsatzes von Treu und Glauben – greift im Kommunalbeitragsrecht nicht erst dann ein, wenn seit dem Entstehen der Vorteilslage mehr als 30 Jahre vergangen sind. Vielmehr kann die Beitragserhebung nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls auch schon vor Ablauf eines solchen Zeitraums treuwidrig sein und eine unzulässige Rechtsausübung darstellen (hier bejaht).
Normenkette
KAG BW § 32 Abs. 1 S. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 4 lit. c; LVwVfG § 53 Abs. 2 S. 1; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
VG Karlsruhe (Aktenzeichen 2 K 858/16) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19.01.2017 – 2 K 858/16 – geändert. Der Abwasserbeitragsbescheid der Beklagten vom 15.08.2013 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamts Calw vom 17.02.2016 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zum Abwasserbeitrag.
Er ist Eigentümer der Grundstücke Flst.-Nrn. xxxxx und xxxxxx (Rxxxxxxxweg xx) auf der Gemarkung der Beklagten.
Mit Abwasserbeitragsbescheid vom 15.08.2013 zog die Beklagte den Kläger gemäß ihrer Satzung über die öffentliche Abwasserbeseitigung vom 25.07.2012 (im Folgenden: AbwS 2012) zu einem Abwasserbeitrag in Höhe von 7.395,90 EUR heran.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies das Landratsamt Calw mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.2016 mit der Begründung als unbegründet zurück, dass im Gemeindegebiet der Beklagten bis zum Erlass der AbwS 2012 kein wirksames Abwassersatzungsrecht bestanden habe. Somit habe die Beitragspflicht des Klägers auch nicht verjähren können, weil die vierjährige Festsetzungsfrist erst mit dem Inkrafttreten wirksamer Satzungsbestimmungen über die Beitragserhebung zum 01.10.2012 zu laufen begonnen habe. Der Gemeinderat habe als Normgeber die Befugnis gehabt, die mangels ordnungsgemäßer Globalberechnung als rechtswidrig erkannte Satzung vom 25.07.1984 (im Folgenden: AbwS 1984) aufzuheben und an ihre Stelle eine gültige Rechtsnorm zu setzen. Die Erhebung von Beiträgen vom Kläger widerspreche auch nicht den Grundsätzen der Belastungsklarheit und –vorherseh– barkeit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder dem Grundsatz von Treu und Glauben, denn die Anschlussmöglichkeit für das Grundstück des Klägers habe erst im Jahr 1994 und die Vorteilslage damit weniger als 30 Jahre vor Erlass des Abwasserbeitragsbescheids bestanden.
Der Kläger hat am 29.02.2016 bei dem Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben, zu deren Begründung er zuletzt im Wesentlichen aus geführt hat, sein Grundstück habe seit 1960 über eine Dreikammerfaulgrube verfügt. Da das in solchen Kleinkläranlagen anfallende vorgereinigte Abwasser in der Regel über einen Überlauf in die öffentliche Kanalisation eingeleitet werde, sei das Grundstück bereits seit dem Jahr 1960 an die öffentliche Kanalisa tion angeschlossen. Damit liege die Vorteilslage länger als 30 Jahre zurück. Jedenfalls sei die Vorteilslage vor dem Jahr 1990 eingetreten, weil in einem Schreiben der Stadtverwaltung/Stadtwerke der Beklagten an seinen Vater vom 15.08.1990 auf eine Rechnung für die Herstellung des Kanalanschlusses des Grundstücks Bezug genommen werde. Dass der genaue Zeitpunkt nicht ermittelt werden könne, gehe zu Lasten der Beklagten. Die Beitragserhebung widerspreche zudem dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 0 5.03.2013 – 1 BvR 2457/08 –. Weiter hat der Kläger sinngemäß geltend gemacht, die AbwS 2012 entfalte keine Rückwirkung bzw. könne nicht zur Abrechnung eines lange zurückliegenden Vorteils herangezogen werden. Auch verhalte sich die Beklagte widersprüchlich, weil sie jahrzehntelang die Satzu...