Sachverhalt
In dem Verfahren ging es um die Modalitäten der Erstattung eines vom Unternehmer in der Voranmeldung erklärten Vorsteuerüberhangs. Übersteigt der Vorsteuerabzug den Betrag der für einen Besteuerungszeitraum geschuldeten Steuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss nach Art. 18 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007: Art. 183 MwStSystRL) entweder auf den folgenden Besteuerungszeitraum vortragen lassen oder ihn nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
Die Klägerin wies in ihrer Voranmeldung für Januar 2006 einen Vorsteuerüberhang aus. Unter Berufung auf Art. 18 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie beantragte sie daraufhin beim Finanzamt die Erstattung dieses Überschusses innerhalb von 60 Tagen ab der Abgabe ihrer Mehrwertsteuererklärung. Gestützt auf Art. 87 Abs. 1 und 2 sowie Art. 97 Abs. 5 und 7 des polnischen Mehrwertsteuergesetzes wies das Finanzamt den Antrag der Klägerin zurück. Es war der Ansicht, dass die Klägerin die Erstattung des Vorsteuerüberhangs nicht innerhalb der Frist von 60 Tagen erhalten könne, weil sie die dafür geltenden Voraussetzungen insofern nicht erfülle, als sie ihre Tätigkeit vor weniger als zwölf Monaten begonnen und dem Finanzamt keine Kaution im Sinne von Art. 97 Abs. 7 des Mehrwertsteuergesetzes gestellt habe.
Nach Art. 87 Abs. 1 und 2 des polnischen Mehrwertsteuergesetzes hat der Unternehmer bei einem erklärten Vorsteuerüberhang das Recht, die für die folgenden Zeiträume geschuldete Steuer um den entsprechenden Betrag zu mindern, oder ein Recht auf Erstattung des Überschusses auf ein Bankkonto. Der Überschuss wird innerhalb von 60 Tagen ab der Abgabe der Voranmeldung durch den Unternehmer erstattet. Nach Artikel 97 Abs. 5 des Gesetzes verlängert sich die Frist von 60 Tagen bei Unternehmern, die ihre Tätigkeit neu aufnehmen oder mit der Ausübung ihrer Tätigkeiten weniger als zwölf Monate vor der Abgabe der Voranmeldung begonnen haben, auf 180 Tage. Nach Artikel 97 Abs. 7 des Gesetzes findet Absatz 5 keine Anwendung, wenn der Unternehmer dem Finanzamt eine Kaution, eine Vermögenssicherheit oder eine Bankbürgschaft in Höhe von 250.000 PLN stellt.
Entscheidung
Mit seiner ersten Frage wollte das Vorlagegericht wissen, ob die Verlängerung der Erstattungsfrist von 60 auf 180 Tage gegen Art. 183 MwStSystRL verstößt. Hierzu führt der EuGH aus, dass die MwStSystRL zwar das legitime Interesse der Mitgliedstaaten anerkennt, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen und zur Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ergreifen zu können. Das zentrale Instrument des Vorsteuerabzugs darf dabei jedoch nicht unverhältnismäßig erschwert werden. Nach Ansicht des EuGH verletzt die polnische Regelung das Neutralitätsprinzip. Unternehmensneugründer werden in Bezug auf die Erstattung von Vorsteuerüberschüssen schlechter behandelt als länger bestehende Unternehmen, ohne dass die Neugründer im Einzelfall nachweisen dürfen, dass keine Steuerhinterziehungen vorliegen und somit eine kürzere Erstattungsfrist greifen könnte. Dies ist für den EuGH kein angemessenes Vorgehen bei der Betrugsbekämpfung. Die bei Neugründern vorgesehene Erstattungsfrist von 180 Tagen sei einerseits sechsmal so lang wie der bei der Mehrwertsteuer geltende Voranmeldungszeitraum von einem Monat und andererseits dreimal so lang wie die bei anderen Unternehmern angewandte Frist. Die polnischen Behörden hätten keine Gründe vorgebracht, mit denen sich die Notwendigkeit erklären ließe, zur Bekämpfung von Steuerhinterziehungen eine derart weit reichende Ungleichbehandlung einzuführen.
Die zweite Frage des Vorlagegerichts, ob die polnische Regelung ggf. eine Sondermaßnahme zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nach Artikel 27 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007: Art. 395 MwStSystRL) darstellen könnte, verneint der EuGH. Solche Maßnahmen müssen vom Rat genehmigt worden sein. Eine entsprechende Genehmigung hatte Polen aber nicht erhalten.
Hinweis
Polen wird aufgrund der jetzigen Entscheidung - wie viele andere Mitgliedstaaten auch - seine Praxis bei der Erstattung von Vorsteuerüberhängen zugunsten der Unternehmer ändern müssen. Deutschland ist davon nicht betroffen. In Deutschland können Unternehmer derzeit die Vorsteuer bereits abziehen, wenn eine Leistung an sie erfolgt ist und entsprechend Rechnung gelegt wurde. Die Zahlung des Entgelts an den Leistenden ist hierfür grundsätzlich unerheblich; daher verschafft der Vorsteuerabzug dem Leistungsempfänger in vielen Fällen einen Liquiditätsvorteil. Die Regelung setzt Art. 167 MwStSystRL um, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch (des Fiskus) auf die abziehbare Steuer entsteht. Der Steueranspruch entsteht nach Art. 63 MwStSystRL grundsätzlich mit Bewirkung der Leistung. Art. 167 MwStSystRL bestimmt jedoch nicht den Zeitpunkt der Auszahlung von Vorsteuerguthaben. Eine Regelung dazu existiert nur in Art. 183 MwStSystRL.
Damit müssen die MS, die die Vortragsregelung anwenden, Überhänge, die sich auch ...