Sachverhalt
Bei dem Verfahren ging es um die Vereinbarkeit bestimmter verfahrensrechtlicher Sanktionen mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Mehrwertsteuerrechts. Nach polnischem Recht besteht für bestimmte Unternehmer die Pflicht, ihre Umsätze mittels Registrierkassen aufzuzeichnen. Solange sie diese Pflicht verletzen, wird im Rahmen ihrer Umsatzbesteuerung ihr Recht auf Vorsteuerabzug um 30% gekürzt. Das Vorlagegericht war im Wesentlichen der Ansicht, dass diese Sanktion gegen das durch das Gemeinschaftsrecht gewährte Vorsteuerabzugsrecht verstoßen könnte. Die polnische Steuerverwaltung hat dagegen u.a. vorgetragen, dass durch die Sanktion das Recht auf Vorsteuerabzug selbst nicht eingeschränkt werde, sondern die Geldbuße nur betragsmäßig an die Höhe dieses Rechtes anknüpfe.
Entscheidung
Der EuGH hat ohne Schlussanträge entschieden, dass die polnische Regelung grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Zwar darf das Recht auf Vorsteuerabzug entsprechend dem Neutralitätsgrundsatz des Mehrwertsteuerrechts grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Das EU-Mehrwertsteuerrecht lässt aber zum einen eine Verpflichtung zur Verwendung von Registrierkassen ohne weiteres zu. Der EuGH hat anerkannt, dass eine nationale Pflicht zur Verwendung von Registrierkassen dazu dient, eine genaue Steuererhebung sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, indem sie von den Unternehmern verlangt, dass sie für die Aufzeichnung ihres Umsatzes und der geschuldeten Steuerbeträge Registrierkassen verwenden. Eine solche Verpflichtung gehört für den EuGH unstreitig zu den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 22 Abs. 8 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007: Art. 273 MwStSystRL) erlassen dürfen. Zum anderen sind verfahrensrechtliche Sanktionen im Bereich der Anwendung des Gemeinschaftsrechts Sache der Mitgliedstaaten, solange dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird. Dessen Prüfung obliegt dem nationalen Gericht, wobei der EuGH - im Rahmen seiner üblichen "sachdienlichen Hinweise" - keine Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der vorliegenden Sanktion erkennen lässt.
Der EuGH bestätigt mit seinem Urteil, dass die Mitgliedstaaten mangels einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Gemeinschaftsrecht geschaffene Regelung vorsieht (hier Aufzeichnungspflichten), die Sanktionen wählen können, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten.
Die nach polnischem Recht mögliche Geldbuße hat nach dem Urteil auch nicht den Charakter einer Umsatzsteuer, so dass die Abgabe nach Art. 33 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007: Art. 401 MwStSystRL) unzulässig wäre. Die Sanktion wird nicht durch ein bestimmtes Rechtsgeschäft ausgelöst, sondern durch die Verletzung einer Aufzeichnungspflicht, und hat daher nicht den Charakter einer Umsatzsteuer im Sinne von Art. 33 der 6. EG-Richtlinie.
Der EuGH hat sich mit mit nationalem Verfahrensrecht bereits in seiner Entscheidung vom 18.12. 1997 (EuGH v. 18.12.1997, verb. Rs. C-286/94 (Garage Molenheide BVBA), C-340/95 (Peter Schepens), C-401/95 (Bureau Rik Decan-Business Research & Development NV (BRD)), C-47/96 (Sanders BVBA), EuGHE I 1997, 7281) auseinander gesetzt. Er hatte zu entscheiden, ob die nach belgischem Recht mögliche "Zurückbehaltung" etwaiger Vorsteuerüberhänge mit Artikel 18 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie vereinbar ist oder nicht. In den Streitfällen hatten die belgischen Finanzbehörden die Auszahlungen von Vorsteuerguthaben verweigert, bis Klarheit über die Höhe der Umsätze in anderen Besteuerungszeiträumen bestehe und die Guthaben als Sicherheiten für zu erwartende Umsatzsteuerschulden betrachtet. Nach der EuGH-Entscheidung ist eine derartige Zurückbehaltung grundsätzlich mit Artikel 18 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie vereinbar. Die Vorschrift betreffe derartige Maßnahmen grundsätzlich nicht. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen zu prüfen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann nach dem Urteil aber verletzt sein, wenn die Sicherheitsleistung das Vorsteuerabzugsrecht systematisch in Frage stellt.
Hinweis
Das jetzige Urteil wirkt sich nicht unmittelbar auf das deutsche Recht aus, weil diesem Geldbußen bei Verletzung umsatzsteuerlicher Aufzeichnungspflichten nicht bekannt sind. Allerdings könnte der deutsche Gesetzgeber auf der Grundlage des Urteils die Verwendung von Registrierkassen fordern und bei Nichtbefolgung Geldbußen in Abhängigkeit dem Unternehmer zustehender Vorsteuerguthaben festsetzen.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 29.07.2010, C-188/09