Sachverhalt
In dem Verfahren ging es um die Auslegung von Art. 17 und 20 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007: Art. 167 ff. MwStSystRL). Ungarn wendet seit dem 1.1.2008 das reverse-charge-System auf Bauleistungen an, d.h. der die Bauleistung empfangende Unternehmer schuldet an Stelle des leistenden Unternehmers die Steuer. Der die Leistung empfangende Unternehmer muss nach ungarischem Recht für den Vorsteuerabzug aus seiner eigenen Steuerschuld über eine entsprechende Nettorechnung verfügen, aus der sich der Übergang der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger ergibt.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens schloss 2006 mit einem Bauherrn einen Werkvertrag über Bauleistungen. Sie bediente sich für die Bauleistungen einer Reihe von Subunternehmern. Mit den Bauarbeiten wurde im Frühjahr 2007 begonnen, doch wurden sie im Sommer 2007 wegen finanzieller Schwierigkeiten unterbrochen. Für die bis dahin erbrachten Arbeiten wurden Rechnungen ausgestellt. Sowohl die Klägerin des Ausgangsverfahrens als auch ihre Subunternehmer kamen für Leistungen ihren Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer gemäß dem alten ungarischen Mehrwertsteuergesetz nach.
Nach dem Inkrafttreten des neuen ungarischen MwStG zum 1.1.2008 beantragten die Klägerin, der Bauherr und die Subunternehmer am 14.2.2008 gemäß Art. 269 Abs. 1 des neuen MwStG durch eine gemeinsame Entscheidung die Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes sowohl auf die Arbeiten, die gemäß dem Vertrag zwischen der Klägerin und dem Bauherrn bereits ausgeführt worden waren, als auch auf diejenigen, die zwischen der Klägerin und ihren Subunternehmern vereinbart worden waren. Die Finanzbehörde verweigerte der Klägerin daraufhin den Vorsteuerabzug aus den Bauleistungen der Subunternehmer, da die Rechnungen der Subunternehmer nicht den Vorgaben des neuen MwStG entsprächen. Denn nach der Erklärung vom 14.2.2008 seien die Bestimmungen des neuen MwStG über die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf die im Jahr 2007 ausgestellten Rechnungen rückwirkend anwendbar. Die von den Subunternehmern ausgestellten Rechnungen hätten die Vorgaben an die Rechnungsstellung in den Fällen des Übergangs der Steuerschuld erfüllen müssen. Damit die Klägerin ihr Recht auf Vorsteuerabzug nach Maßgabe der Bestimmungen des neuen Mehrwertsteuergesetzes ausüben könne, hätten die Subunternehmer daher die ausgestellten Rechnungen (rückwirkend) berichtigen müssen.
Das Vorlagegericht fragte den EuGH, ob die ungarische Regelung, die am 1.1.2008 - nach dem Entstehen eines Rechts auf Vorsteuerabzug - in Kraft getreten ist und die im Hinblick auf den Vorsteuerabzug für die im Jahr 2007 erbrachten Bauleistungen die Berichtigung der Rechnungen verlangt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Entscheidung
Der EuGH hat entschieden, dass im Vorlagefall schon die MwStSystRL anwendbar ist und dass die Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie der rückwirkenden Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die im Rahmen des reverse-charge-Systems für den Vorsteuerabzug auf Bauarbeiten eine Berichtigung der Rechnungen für diese Umsätze und die Abgabe einer ergänzenden berichtigenden Steuererklärung verlangt, auch wenn die betreffende Steuerbehörde über alle Angaben verfügt, die für die Feststellung, dass der Unternehmer als Empfänger der fraglichen Leistungen die Mehrwertsteuer zu entrichten hat, und für die Überprüfung der Höhe des Vorsteuerabzugs erforderlich sind.
Der EuGH hat nochmals bestätigt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Ein Unternehmer, der als Empfänger einer Dienstleistung die darauf anfallende Steuer schuldet, braucht für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine gemäß den formellen Vorgaben der MwStSystRL ausgestellte Rechnung zu besitzen und muss nur die Förmlichkeiten erfüllen, die der betreffende Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Art. 178 Buchst. f MwStSystRL eröffneten Möglichkeit vorgeschrieben hat (vgl. EuGH, Urteil v. 1.4.2004, C-90/02 (Bockemühl)).
Hinweis
Das Verfahren betraf eine Spezialregelung des ungarischen Mehrwertsteuerrechts, die nach dem Urteil nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Für das deutsche Umsatzsteuerrecht ergeben sich aus dem Urteil keine Konsequenzen. Im Übrigen hat der EuGH wiederum nicht (wie auch nicht in der Rechtssache C-368/09 - vgl. EuGH, Urteil vom 15.7.2010, C-368/09 (Pannon Gép Centrum kft)), entschieden, dass Rechnungsberichtigungen im Hinblick auf den Vorsteuerabzug grundsätzlich rückwirkende Bedeutung haben.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 30.09.2010, C-392/09