Kommentar
Die Kernfrage in dem Vorabentscheidungsverfahren war, ob in anderen EU-Mitgliedstaaten ansässige Unternehmer in besonderen Ausnahmefällen ihren Vorsteuervergütungsanspruch auch mit der Zweitschrift einer Rechnung nachweisen dürfen. Daraus ergab sich die weitere Frage, ob der Anspruch ggf. endgültig verloren ist, wenn der Unternehmer das Original der Rechnung nicht mehr besitzt.
Nach der Entscheidung kann die Vergütung von Vorsteuern gegenüber im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Unternehmern in bestimmten Ausnahmefällen auch unter Vorlage der Zweitschrift einer Rechnung durchgeführt werden, wenn das Original der Rechnung verloren gegangen ist. Voraussetzung hierfür ist, daß der Antragsteller es nicht zu vertreten hat, daß die Rechnung abhanden gekommen ist. Außerdem muß der dem Vergütungsantrag zugrundeliegende Vorgang (der Umsatz) zweifelsfrei stattgefunden haben und die Gefahr weiterer Erstattungsanträge darf nicht gegeben sein.
Nach der Entscheidung müssen inländische Unternehmer und Unternehmer in anderen Mitgliedstaaten auch hinsichtlich des Vorsteuerabzugsrechts gleichbehandelt werden. Hat ein inländischer Unternehmer die Möglichkeit, den Nachweis für den Vorsteuerabzug durch Vorlage einer Zweitschrift der Rechnung oder einer Ablichtung zu führen, folgt aus dem Diskriminierungsverbot von Artikel 6 EG-Vertrag , daß der ausländische Unternehmer seinen Erstattungsantrag ebenfalls mit diesen Mitteln belegen können muß.
Der Gerichtshof stand vor der Frage, ob die formellen Antragsvoraussetzungen nach Artikel 3 der 8. EG-Richtlinie im Einzelfall so weit ausgelegt werden können, daß sie endgültig zum Verlust des Vorsteuerabzugsrechts in Form des Erstattungsanspruchs führen, oder ob der Grundsatz der Steuerneutralität, d.h. die Sicherstellung des Vorsteuerabzugsrechts, im Einzelfall Vorrang vor dem mit Artikel 3 auch verfolgten Ziel der Bekämpfung der Steuerhinterziehung hat. Der EuGH hat den Grundsatz der Steuerneutralität höher bewertet, wobei er aber die Möglichkeit, die Erstattung von Vorsteuern auch aufgrund der Zweitschrift einer Rechnung beanspruchen zu können, an bestimmte Voraussetzungen bindet.
Wenn der EuGH auch vordergründig auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Unternehmer abhebt, so leitet sich seine Entscheidung doch aus der zentralen Bedeutung des Vorsteuerabzugsrechts her. Zwar legt der EuGH auf den ersten Blick strenge Voraussetzungen fest, die eine Auslegung von Artikel 3 der 8. EG-Richtlinie gegen ihren Wortlaut rechtfertigen. Der Unternehmer darf das Abhandenkommen der Originalrechnung nicht zu vertreten haben, der dem Erstattungsantrag zugrundeliegende Umsatz muß tatsächlich stattgefunden haben und die Gefahr eines weiteren Erstattungsantrages – ggf. unter Vorlage der wieder aufgetauchten Originalrechnung – muß ausgeschlossen sein. Dies schließt keinesfalls aus, daß Vorsteuererstattungen künftig auch in vielen anderen Fällen gegen die formellen Voraussetzungen der 8. EG-Richtlinie geleistet werden müssen. Wenn die Originalrechnung auf dem Postweg verlorengeht, wird der Unternehmer dies wohl nie zu vertreten haben. Dies gilt auch für den Fall, daß ein Erstattungsantrag aufgrund verlängerter Postlaufzeiten verspätet bei der Erstattungsbehörde eintrifft. Im Lichte der Entscheidung (Gleichbehandlungsgrundsatz) müßte demnach auch in solchen Fällen noch eine Erstattung gewährt werden. Es ist jedenfalls zu erwarten, daß viele Unternehmer sich in vergleichbaren Fällen auf das Urteil berufen werden.
Das Urteil dürfte keine Auswirkung auf Vorsteuervergütungen an Drittlandsunternehmer nach der 13. Richtlinie haben, weil die Mitgliedstaaten danach die Modalitäten für die Antragstellung selbst bestimmten dürfen.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 11.06.1998, C-361/96