Dr. Gudrun Doering-Striening
Die Welt ist im Wandel …
Auch das klassische Sozialhilferecht und die Regeln zum Einsatz von Einkommen und Vermögen. So ist der Elternunterhaltsanspruch aus Einkommen unter 100.000 EUR Gesamteinkommen im Sinne des § 16 SGB IV seit 1.1.2020 unter großem Öffentlichkeitsecho kein Einkommen im Sinne des Sozialhilferechtes mehr und geht auch nicht mehr auf den Sozialhilfeträger über.
Nahezu unbemerkt, aber für dieses Buch bedeutsamer, ist – ebenfalls am 1.1.2020 – die Änderung des Eingliederungshilferechts für Menschen mit Behinderung in Kraft getreten. Das Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung, bei denen die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in erheblichem Umfang eingeschränkt ist, hat sich, anders als man das bei den ersten Entscheidungen zum Behindertentestament noch für möglich gehalten und zur Legitimationsgrundlage gemacht hat, damit nicht zurück- sondern wesentlich weiterentwickelt. Es geht in der Eingliederungshilfe nicht mehr um eine "sicherzustellende Grundversorgung" für Menschen mit Behinderung. Das Recht der Eingliederungshilfe ist unter dem Einfluss von Art. 19 UN-BRK zu einem personenzentrierten Leistungsrecht des SGB IX umgebaut und deshalb konsequent aus dem klassischen Sozialhilferecht des SGB XII ausgegliedert worden. Leistungen der Eingliederungshilfe sind zwar auch weiterhin nachrangig ausgestaltet (§ 91 SGB IX) – und insofern behalten Behindertentestamente ihre Rechtfertigung und Notwendigkeit –, aber eben ganz anders als bisher im SGB XII. Der Nachrang wird nicht mehr durch Bedarfsanrechnung, sondern durch einen Kostenbeitrag realisiert, der Vermögensschonbedarf liegt in den alten Bundesländern bei fast 60.000 EUR und steigt dynamisch an. Eine Erbenhaftung kennt das SGB IX nicht.
Im SGB II hatte sich bereits zuvor der Einkommensbegriff von demjenigen des SGB XII entfernt und auch dort wurde die Erbenhaftung abgeschafft, so dass man nicht mehr einfach von "dem" Nachrangprinzip sprechen kann.
Die Feststellung "drei verschiedene Sozialleistungen, drei verschiedene Einkommens- und Vermögensbegriffe" hat deshalb die Gestaltung der Neuauflage maßgeblich geprägt. Jetzt – am Ende der Arbeiten zur Neuauflage – muss es allerdings heißen "jede nachrangige Sozialleistung fordert die gesonderte Prüfung wie Einkommen und Vermögen im jeweils konkreten Gesetz verstanden wird." Das Buch wurde nach und nach um weitere Sachverhalte und Gesetze ergänzt, die ihrerseits eigene Einkommens- und Vermögensbegriffe kennen und bei denen deshalb ggf. besondere Gestaltung oder Rechtsverteidigung erforderlich ist.
Für einen Nichtsozialrechtler ist eine solche Feindifferenzierung eigentlich eine Zumutung und schon bei der Besprechung der ersten Auflage war deshalb der Wunsch geäußert worden, wenigstens eine Art Glossar für die vielen unterschiedlichen Soziallleistungen beizufügen, damit man nicht völlig an dem Versuch scheitere, sich Orientierung zu verschaffen. Ich habe mich stattdessen für einen Kompass entschieden und dem Text ein umfangreiches Kapitel vorangestellt, das ich die "Landkarte der sozialen Sicherheit" genannt habe. Diese Landkarte und die vielen begleitenden Fälle sollen den Nichtsozialrechtlern wie den Sozialrechtlern einen orientierenden Einstieg geben. Sie versucht anhand der Struktur des Sozialrechts zu zeigen, wo "no go areas" sein könnten und wo Gestaltungsspielraum ist. Hat man den richtigen Einstieg gefunden, dann kann man gezielt die einzelnen Kapitel ansteuern und dort suchen, welche Regeln für die Anrechnung von Einkommen und Vermögen speziell in diesem Gesetz gelten. Dort beginnt die Suche nach den "normativen Schutzschirmen" für Zuflüsse aus Erbfall und Schenkung, denn nicht einzusetzen ist immer nur das, was ausdrücklich aufgrund einer gesetzlichen Regelung geschützt ist.
Am Ende des Buches werden Fragen der Rechtsgestaltung und -vertretung beispielhaft am Schenkungsrückforderungsanspruch und am Bedürftigen-/Behindertentestament behandelt und vertieft. Wenn es gelingt, die "normativen Schutzschirme" für den speziellen Fall zu finden, dann greifen Erb-/Schenkungsrecht und Sozialrecht wie "Schloss und Schlüssel ineinander". Dann ist der Auftrag erfüllt.
Die Welt ist im Wandel …
Während der Erstellung der Neufassung dieses Buches gab es – bis hin zum Hochwasser im Juli 2021 – einige Hindernisse zu bewältigen. Viele der bearbeiteten Gesetze wurden (zum Teil mehrfach) geändert. Ich habe versucht, auch die Neuregelungen bis 2024 und die Rechtsprechung bis Juli 2021 zu berücksichtigen. Sollte mir auf der "Landkarte der sozialen Sicherheit" gleichwohl etwas "durchgegangen" sein, bitte ich um wohlwollende Nachsicht und um Information.
Essen, im September 2021
Dr. Gudrun Doering-Striening