Leitsatz
Auch Schritte im internen Willensbildungsprozess eines Unternehmens können für Anlageentscheidungen relevant sein. Verspätete Veröffentlichungen von Unternehmensinterna können daher eine Schadensersatzpflicht nach sich ziehen.
Sachverhalt
Der BGH hatte in einem Kapitalanlagemusterverfahren über die Schadensersatzansprüche von Anlegern gegenüber Daimler in Stuttgart wegen angeblich verspäteter Veröffentlichung von Unternehmensinterna zu entscheiden. Gegenstand war die erstmalig am 15.5.2005 gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden geäußerte Rücktrittsabsicht des Vorstandsvorsitzenden Prof. Schrempp. Den Rücktritt plante Schrempp zum Jahresende 2005 und informierte im Juni/Juli 2 weitere Aufsichtsratsmitglieder sowie das Vorstandsmitglied Dr. Zetsche. Nach weiteren Zwischenschritten und einem entsprechenden Beschluss des Präsidialausschusses von Daimler am 27.7.2005 beschloss der Aufsichtsrat am 28.7.2005 den Rücktritt. Etwa 40 Minuten später wurde eine entsprechende "Ad-hoc-Mitteilung" veröffentlicht.
Das OLG hat die Rechtsbeschwerde des Musterklägers zweimal abgewiesen. In der 1. Entscheidung vertrat das OLG die Auffassung, erst die Entscheidung des Aufsichtsrats am 28.7.2005 habe eine veröffentlichungspflichtige Tatsache geschaffen. Nach Rückverweisung durch den BGH sah das OLG den Beschluss des Präsidialausschusses als entscheidend an. Die vorgelagerten Zwischenschritte seien lediglich interne Meinungsbildungsakte, aus denen sich noch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für ein zukünftiges Ereignis ergebe.
Der BGH war mit der Entscheidung des OLG wieder nicht zufrieden. Der BGH stellte vielmehr auf die Sicht des Anlegers ab. Nach dem Sinn des WpHG seien sämtliche Umstände zu veröffentlichen, die Auswirkungen auf die Anlageentscheidung eines vernünftig denkenden Anlegers haben könnten. Hierzu gehörten bei einem gestreckten Vorgang auch Zwischenschritte auf ein zukünftiges Ereignis hin. Bereits die gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden geäußerte Rücktrittsabsicht des Vorstandsvorsitzenden könne Einfluss auf den Aktienkurs haben und sei damit kursrelevant. Gleiches gelte für die weiteren Zwischenschritte der internen Willensbildung. Dass das Ergebnis der Willensbildung noch offen sei, ändere an der Kursrelevanz solcher Vorgänge nichts.
Nach Auffassung des BGH hängt die Publizitätspflicht in diesen Fällen aber auch von der Auslegung europäischer Richtlinien zur Publizitätspflicht ab. Hiernach ist die Publizitätspflicht zu gegeben, wenn bereits realisierte Zwischenschritte zu einem künftigen Ereignis eigenständige präzise Informationen enthalten und das künftige Ereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintritt. Ob hierbei eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erforderlich sei oder ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad ausreiche, könne nur der EuGH klären.
Link zur Entscheidung
BGH, Beschluss v. 22.11.2010, II ZB 7/09.