Sachverhalt
Bei dem Verfahren ging es um eine Frage aus dem EG-Beihilferecht, die einen umsatzsteuerlichen Hintergrund hat. Nach dem österreichischen Umsatzsteuerrecht waren ärztliche Leistungen, die vor dem 1.1.1997 erbracht wurden, umsatzsteuerpflichtig zum Normalsteuersatz. Ab dem 1.1.1997 sind die Umsätze in Anwendung von Artikel 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie steuerfrei ohne das Recht auf Vorsteuerabzug. Das Hinausschieben des In-Kraft-Tretens der Steuerbefreiung in Österreich auf den 1.1.1997 beruht auf der Übergangsregelung in Anhang XV Abschnitt IX (Steuern) Nr. 2 Buchst. a 2. Gedankenstrich der Akte über die Beitrittsbedingungen und die Anpassungen der die Union begründenden Verträge infolge des Beitritts Österreichs zur EU zum 1.1.1995. Danach durfte Österreich bis zum 31.12.1996 weiterhin "einen Mehrwertsteuer-Normalsatz von 20 v.H. auf die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin durch Ärzte im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens und der Sozialfürsorge" anwenden.
Über einen längeren Zeitraum erbrachte ärztliche Leistungen (z. B. kieferorthopädische Behandlungen), die vor dem 1.1.1997 begannen und nach dem 31.12.1996 beendet werden, waren umsatzsteuerfrei. Wurden auf derartige Leistungen vor dem 1.1.1997 Anzahlungen vereinnahmt und versteuert, wurden die Anzahlungen nachträglich der Steuerbefreiung unterworfen. Die betroffenen Unternehmer erhielten in diesen Fällen entsprechende Rückerstattungen.
Der Kläger, ein Facharzt für Zahnheilkunde, machte für kieferorthopädische Behandlungen, die am 1.1.1997 noch nicht abgeschlossen waren, Umsatzsteuerrückerstattungen aus bereits erhaltenen Anzahlungen geltend. Das österreichische Finanzamt ging davon aus, dass bei derartigen länger anhaltenden Behandlungen von jährlich erbrachten Leistungen auszugehen sei. Von daher gewährte es dem Kläger lediglich eine Umsatzsteuererstattung für das Jahr 1996. In der Einspruchsentscheidung nahm das Finanzamt eine Verböserung vor, in dem es auch Vorsteuern aus vor dem 1.1.1997 getätigten Investitionen berichtigte, soweit der Berichtigungszeitraum noch nicht abgelaufen war. In dem finanzgerichtlichen Verfahren machte die Finanzbehörde geltend, Artikel XIV Z 3 des Bundesgesetzes BGBl. 21/1995, wonach eine Vorsteuerberichtigung in den genannten Fällen nicht vorgenommen werden soll, stelle eine nicht notifizierte Beihilfe im Sinne von Artikel 87 f EG dar. Solche nicht notifizierten Beihilfen dürften gem. Artikel 88 Abs. 3 EG von den Behörden der Mitgliedstaaten nicht vollzogen werden. Im Übrigen widerspreche die Regelung in Artikel XIV Z 3 des Bundesgesetzes BGBl. 21/1995 dem Artikel 20 der 6. EG-Richtlinie.
Entscheidung
Der EuGH hat sich in seinem Urteil zwar nicht dazu geäußert (die Frage war ihm nicht gestellt worden), ob der Verzicht auf die Vorsteuerberichtigung bei Übergang zur Steuerbefreiung ärztlicher Leistungen gegen Artikel 20 der 6. EG-Richtlinie verstößt. Implizit hat er dies aber wohl bejaht, weil der Verzicht nach der Entscheidung eine Beihilfe darstellt. Nach dem Urteil müssen gemäß Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag folgende Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Maßnahme als Beihilfe qualifiziert werden kann:
- es muss sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln;
- die Maßnahme muss geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen;
- durch die Maßnahme muss dem Begünstigten durch sie ein Vorteil gewährt werden;
- die Maßnahme muss den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.
Hinweis
Alle Voraussetzungen einer Beihilfe liegen nach dem Urteil im Ausgangsfall vor. Von daher dürfte die Regelung, wonach in den Fällen der verzögerten Anwendung der Steuerbefreiung auf ärztliche Dienstleistungen keine Vorsteuerberichtigungen durchzuführen sind, mit Artikel 20 der 6. EG-Richtlinie nicht vereinbar sein (darauf deutet auch Rz. 59 des Urteils hin). Zwar dürfen die Mitgliedstaaten bei der Berichtigung des Vorsteuerabzugs bestimmte Vereinfachungsmaßnahmen treffen (Artikel 20 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie) oder unter bestimmten Voraussetzungen ganz von der Berichtigung absehen (Artikel 20 Abs. 5 der 6. EG-Richtlinie). Diese Voraussetzungen dürften im Ausgangsfall jedoch nicht gegeben gewesen sein. Allerdings hat der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 3.6.2003 (verb. Rs C-487/01 und C-7/02) die Auffassung vertreten, dass Gesetzesänderungen Vorsteuerberichtigungen nach Artikel 20 der 6. EG-Richtlinie grundsätzlich nicht auslösen können. Dies ist allerdings dem Wortlaut der Vorschrift so nicht zu entnehmen. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit, die der Generalanwalt als Rechtfertigung eines Berichtigungsverbots anführt, dürften für die Zeit nach einer Gesetzesänderung nicht mehr gelten können. Ein Berichtigungsverbot müsste dann schließlich in allen Fällen gelten, also auch dann, wenn ein steuerfreier Umsatz durch Gesetzesänderung steuerpflichtig wird.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil...