„Herzstück” des zum 1.1.2002 in Kraft getretenen ZPO-Reformgesetzes ist § 139 ZPO. In einem Standardkommentar zur ZPO wird diese Vorschrift als „Magna Carta des Zivilprozesses” bezeichnet. Die bereits vor der Reform bestehende richterliche Hinweispflicht wurde in § 139 Abs. 4 ZPO konkretisiert:
Zitat
„Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen.”
Die Formulierung des Gesetzes ist eindeutig und unmissverständlich, gleichwohl findet § 139 Abs. 4 ZPO in der Praxis wenig Beachtung.
In einem Aufsatz zur ZPO-Reform beklagte sich ein Richter darüber, er müsse, wenn er die gesetzlichen Vorschriften beachten wolle, nunmehr sämtliche Schriftsätze nach Eingang lesen und überprüfen, ob diese Schriftsätze Anlass zu einem Hinweis gem. § 139 ZPO geben. In einer Kommentierung zur ZPO-Reform 2002 heißt es, dass sich nunmehr die richterliche Tätigkeit auf den Schreibtisch verlagere.
Gerade das war und ist Sinn der ZPO-Reform: Nach Möglichkeit sollen bereits in einem ersten Termin alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte abschließend erörtert werden können.
In der Praxis ist es jedoch so, dass die meisten Richter erst im Termin Hinweise erteilen, also verspätet. In angenehmer Erinnerung ist eine inzwischen im Ruhestand befindliche Vorsitzende einer Berufungskammer des Landgerichts Köln, die eine Woche vor dem Verhandlungstermin das Votum der Kammer an die Prozessbevollmächtigten übermittelt hat. Dieses Vorgehen hat bei vielen Richterkollegen blankes Entsetzen hervorgerufen, die das Beratungsgeheimnis in Gefahr sahen.
Aber: Hinweise vor der mündlichen Verhandlung sind so rechtzeitig zu geben, dass noch eine Vorbereitung durch Schriftsätze möglich ist. Oft unterbleiben richterliche Hinweise in falsch verstandener Neutralität und der Befürchtung, dass die Prozesspartei, zu deren Gunsten Hinweise ergangen sind, nicht mehr vergleichsbereit ist.
Die richterliche Prozessförderungspflicht findet ihre Grenzen in der Wahrung des Verhandlungsgrundsatzes und der Unparteilichkeit. Befangenheit eines Richters ist nicht zu befürchten, wenn dieser auf einen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt hinweist, den eine Partei erkennbar übersehen hat (§ 139 Abs. 2 ZPO).
Ziel des ZPO-Reformgesetzes 2002 war eine Beschleunigung des Verfahrens, die insbesondere dadurch bewirkt werden sollte, dass im ersten und einzigen Verhandlungstermin entscheidungsreif verhandelt werden kann. Dieses Ziel wird allerdings verfehlt, wenn erst im Termin Hinweise erteilt werden, auf die zwar eine Schriftsatzfrist zu gewähren ist, in den meisten Fällen dann jedoch noch ein weiterer Termin erforderlich ist.
Autor: Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln
ZAP F., S. 467–467