I. Einführung
Nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Sicherungsanordnung ist auf die Abwehr belastender Eingriffe gerichtet. Sie dient der Erhaltung des Status quo und damit vor allem der Sicherung von Unterlassungsbegehren. Demgegenüber ist die Regelungsanordnung für die Durchsetzung von Verpflichtungs-, Leistungs- und Feststellungsbegehren, d.h. für zustandsverbessernde Maßnahmen bestimmt.
Das Anordnungsverfahren ist ein selbstständiges Verfahren, das unabhängig vom Hauptsacheverfahren geführt wird. Namentlich braucht eine einstweilige Anordnung nicht durch eine Klage zur Hauptsache flankiert zu werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die im Eilverfahren unterlegene Partei gem. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO bei Gericht die Anordnung der Klageerhebung binnen einer zu bestimmenden Frist durchsetzt. Wird der Anordnung nicht Folge geleistet, ist die einstweilige Verfügung aufzuheben (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 2 ZPO).
Praxishinweis:
Ist die Klage zur Hauptsache eine Verpflichtungsklage, darf sich der Antragsteller mit einem Eilantrag allerdings dann nicht begnügen, wenn er einen Versagungsbescheid erhalten hat oder nach Antragstellung erhält. Hier muss er Widerspruch einlegen und ggf. Klage erheben, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern. Ist diese vor Einleitung des Eilverfahrens eingetreten oder tritt sie nachträglich ein, ist der Eilantrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
In einem Anordnungsantrag, der der Behörde innerhalb der Widerspruchsfrist zugestellt wird, kann ein Widerspruch nicht gesehen werden (OVG Koblenz AS 11, 191, 193). Ebenso wenig wird mit dem Anbringen des Anordnungsantrags bei Gericht die Hauptsache anhängig (Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn 281). Eine für die Hauptsache bestehende Widerspruchs- oder Klagefrist wird durch die Antragstellung deshalb nicht gewahrt.
II. Verhältnis des § 123 VwGO zu den §§ 80, 80a VwGO
§ 123 Abs. 1 VwGO ist gem. § 123 Abs. 5 VwGO nicht anwendbar, wenn sich der vorläufige Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO richtet, wenn also in der Hauptsache eine Anfechtungsklage zu erheben wäre. Vorläufiger Rechtsschutz nach den §§ 80, 80a VwGO (vgl. hierzu Gatz ZAP F. 19, S. 905 ff.) kann indessen erst dann gewährt werden, wenn ein belastender Verwaltungsakt ergangen ist. Vorläufiger Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO, der darauf gerichtet ist, einen bevorstehenden Eingriff in Form eines Verwaltungsakts zu verhindern, wird daher durch § 123 Abs. 5 VwGO nicht ausgeschlossen (VGH Kassel InfAuslR 1988, 172, 173; VGH München NVwZ-RR 1993, 54, 55). Er kann weiterhin gewährt werden, wenn die Rechtsschutzmöglichkeiten nach den §§ 80, 80a VwGO voll ausgeschöpft sind, das Rechtsschutzziel aber noch nicht erreicht ist (VGH Mannheim GewArch 1985, 136, 137). Das ist der Fall, wenn die Behörde oder ein durch einen Verwaltungsakt begünstigter Dritter die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs rechtswidrig schlicht nicht beachtet oder bewusst missachtet (OVG Magdeburg JMBl LSA 2005, 22, 24), z.B. ein Anbieter eines Fernsehprogramms von einer mit aufschiebender Wirkung angefochtenen Zulassung zum Sendebetrieb Gebrauch macht. Hier bedarf der die Zulassung anfechtende Mitbewerber zusätzlichen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO, um die Beachtung des Suspensiveffekts durchsetzen zu können (VGH München DVBl. 1992, 452, 453).
Vorläufiger Rechtsschutz sowohl nach den §§ 80, 80a VwGO als auch nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO kann veranlasst sein, wenn sich das Rechtsschutzziel nur durch eine Kombination beider Rechtsschutzformen erreichen lässt. Der wichtigste Anwendungsfall sind Konkurrentenverhältnisse. Erteilt die Behörde einem Mitbewerber eine Berechtigung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung, etwa eine einstweilige Erlaubnis zum Betrieb eines Linienverkehrs (§ 20 Abs. 1 S. 1 PBefG), so muss der Unterlegene zum einen nach den §§ 80a Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 S. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des von ihm eingelegten Rechtsmittels erreichen, um den Sofortvollzug der Vergabe an den Mitbewerber zu verhindern, und zum anderen nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO vorgehen, um die vorläufige Erteilung der Berechtigung an sich selbst zu erwirken (OVG Greifswald NVwZ-RR 1997, 139 f.; OVG Koblenz NVwZ-RR 1996, 651).
Hinweis:
Mit einer Besonderheit wartet das Beamtenrecht auf: Streiten zwei Bewerber...