Die Einführung eines Verbandssanktionenrechts wird vielfach als überfällig angesehen (vgl. zum sog. Kölner Entwurf bereits Henssler/Hoven/Kubiciel/Weigend, Grundfragen eines modernen Verbandsstrafrechts, 2017; dies., NZWiSt 2018, 1 ff.). Das BMJV hat diese auch in der Koalitionsvereinbarung angesprochene rechtspolitische Forderung aufgegriffen. Nachdem Mitte 2019 ein erster Entwurf für ein Gesetz zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität bekannt geworden war, hat das Ministerium am 22.4.2020 einen mit den übrigen Ressorts abgestimmten Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft veröffentlicht. Mit dem geplanten Gesetzespaket soll die Ahndung von Verbandstaten auf eine neue Grundlage gestellt werden, indem es ermöglicht wird, Verbände, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist und aus denen heraus Straftaten begangen werden, zu sanktionieren. Kernstück des Entwurfs eines Artikelgesetzes ist ein neues, 68 Paragrafen umfassendes Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG).
Straftaten, die aus einem Verband (juristische Personen und Personenvereinigungen) heraus begangen werden, sollen künftig mit einer Verbandsgeldsanktion geahndet werden, die bei vorsätzlichen Straftaten zwischen 1.000 EUR und 10 Mio. EUR liegen kann. Um im Sinne einer Belastungsgleichheit auch große Unternehmen und multinationale Konzerne empfindlich treffen zu können, ist für Unternehmen mit einem Konzernumsatz von mehr als 100 Mio. EUR eine umsatzbezogene Obergrenze von 10 % des Jahresumsatzes vorgesehen. Für fahrlässige Verbandstaten soll der Bußgeldrahmen jeweils halbiert werden. Das VerSanG will zudem eine Lücke bei der Ahndung von Auslandstaten schließen, die es bislang insb. multinationalen Konzernen mit Sitz in Deutschland ermöglichte, sich bei Auslandstaten durch den Einsatz ausländischer Mitarbeiter einer Sanktion zu entziehen. Die im Erstentwurf noch vorgesehene Verbandsauflösung, gerne auch als "Todesstrafe" für Unternehmen bezeichnet, findet sich im Referentenentwurf allerdings nicht mehr.
Anders als im Ordnungswidrigkeitenrecht, das bisher das Instrument zur Unternehmenssanktion bildete, soll künftig das Legalitätsprinzip gelten. Die Staatsanwaltschaften sollen also künftig zwingend ermitteln, wenn ein Anfangsverdacht für eine aus einem Unternehmen heraus begangene Straftat vorliegt. Dabei sollen verbandsspezifische Einstellungsvorschriften die in der Praxis erforderliche Verfolgungsflexibilität gewährleisten. Insbesondere können Compliance-Maßnahmen berücksichtigt werden. Für die Praxis bedeutsam sind zudem die Regelungsvorschläge zu den "Internal Investigations". Diese auch in der deutschen Unternehmenspraxis inzwischen verbreiteten Verfahren, die als notwendige Elemente eines effektiven Compliance-Management-Systems (CMS) angesehen werden, sollen es – ähnlich wie in ausländischen, insb. angelsächsischen Rechtssystemen – ermöglichen, Verbandssanktionen zu mildern, wenn die Verbände selbst die Vorwürfe untersuchen und dabei mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren. Das jeweils vorgesehene Höchstmaß soll bis zur Hälfte reduziert werden können. Verlangt wird eine Trennung zwischen Untersuchungsführer und Verteidiger: So soll die mit den Internal Investigations betraute Kanzlei nicht gleichzeitig auch die Verteidigung des Verbands übernehmen können. Damit einher geht eine Einschränkung der Rechte der internen Ermittler: lediglich die Unterlagen der Verteidigung sollen beschlagnahmefrei sein, nicht jedoch solche der internen anwaltlichen Ermittler (insoweit kritisch zum Referentenentwurf die Stellungnahme der DAV-Ausschüsse Strafrecht, Berufsrecht und Handelsrecht, NZG 2020, 298, 303 f.). Geregelt werden soll auch die Befragung der Mitarbeiter des Unternehmens, die den Grundsätzen eines fairen Verfahrens folgen muss.
Schließlich soll beim Bundesamt für Justiz ein Verbandssanktionenregister geschaffen werden, in das neben rechtskräftigen Entscheidungen über die Verhängung von Verbandssanktionen auch Bußgeldentscheidungen nach § 30 OWiG eingetragen werden. Das Gesetz soll zwei Jahre nach Verkündung zum ersten Tag des folgenden Quartals in Kraft treten.