"Wenn das Strafrecht alles richten soll – Ultima Ratio oder Aktionismus?" ist das Motto des Deutschen Anwaltstages vom 1. bis 3. Juni 2016 in Berlin.
Als der Deutsche Anwaltverein (DAV) sein diesjähriges Schwerpunktthema festlegte, konnte er noch nicht ahnen, dass das Bundesverfassungsgericht ihm durch eine breit gestreute Bitte um Stellungnahme ungeahnte Aktualität verschaffen würde. Vordergründig geht es zwar nur um einen Vorlagebeschluss des Landgerichts Berlin zur Verfassungsmäßigkeit von Blankettstrafgesetzen (hier das Rindfleischetikettierungsgesetz) mit dynamischer Verweisung (auch "Kaskadenstrafrecht" genannt) auf europäische Rechtsnormen, gemessen am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, und zur Frage, ob, und wenn ja, wie viele Teile eines Straftatbestandes durch Rechtsverordnung statt durch Parlamentsgesetz geschaffen werden können.
Dabei ist das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht stehen geblieben. In seinem Anschreiben stellt es ausdrücklich die Frage, ob das Rindfleischetikettierungsgesetz unter dem Gesichtspunkt des Strafrechts als "ultima ratio" des Gesetzgebers verfassungsgemäß ist. Im Ausgangsfall ging es nicht um vergammeltes Rindfleisch in der Dönerproduktion, sondern um rein formale Verstöße gegen die Etikettierungspflichten, wofür das Amtsgericht eine Geldstrafe von 250 Tagessätzen à 100 EUR verhängte. Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob solche Verstöße derartiges Gewicht haben, dass sie mit einer Strafbewehrung belegt werden müssen, oder ob nicht ein Ordnungswidrigkeitentatbestand ausreicht.
Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK – Stellungnahme-Nr. 3/2016) und DAV (Stellungnahme-Nr. 8/2016) haben sich in der Begründung gleichlautend dahingehend geäußert, dass im Falle formaler Verstöße gegen das Rindfleischetikettierungsgesetz das "ultima-ratio-Prinzip" des Strafrechts verletzt ist. Der Rechtsgüterschutz als entscheidendes Kriterium für den Sinn und Zweck, aber auch die Legitimität von Kriminalstrafe ist keineswegs überholt und kann daher nicht durch "moderne" Strafzwecke wie gesellschaftliche und politische Gestaltung bei gleichzeitiger Eröffnung eines unbegrenzt weiten Gestaltungsspielraums des Strafgesetzgebers ersetzt werden. Der mit dem strafrichterlichen Schuldspruch verbundene Makel, der den personalen und die Menschenwürde berührenden Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen berührt, setzt eine mehr als nur utilitaristische Rechtfertigung dieses stigmatisierenden Eingriffs voraus. Das "ultima-ratio-Prinzip" beruht letztlich auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Strafrecht darf nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Für Spatzen gibt es das Ordnungswidrigkeitenrecht oder verwaltungsrechtliche Sanktionen. Kein Mensch kommt auf die Idee, einen Verstoß gegen ein Parkverbot von einer Ordnungswidrigkeit zu einer Straftat hochzustufen, wenn eine Gefahr für Leben oder Gesundheit typischerweise ausgeschlossen ist.
Deshalb kann in einer freiheitlichen Gesellschaft unter der Herrschaft des Grundgesetzes auch der parlamentarische Gesetzgeber nicht beliebig entscheiden, welches Verhalten er unter Strafe stellen will und welches nicht. Ihn trifft vielmehr eine Begründungspflicht, weshalb bestimmte Verhaltensformen sozialethisch als so schädlich angesehen werden, dass sie zwingend unter Strafe gestellt werden müssen und nicht nur durch einen Ordnungswidrigkeitentatbestand zu sanktionieren sind.
Ein weiteres negatives Bespiel ist das neue Anti-Doping-Gesetz, welches auch das Selbstdoping unter Strafe stellt, obwohl die Selbstschädigung sonst im Strafrecht nicht sanktioniert wird. Auch hierzu hatten BRAK (Stellungnahme-Nr. 29/2015) und DAV (Stellungnahme-Nr. 5/2015) gleichermaßen kritische Stellungnahmen abgegeben, die im Gesetzgebungsverfahren jedoch keine Berücksichtigung fanden.
Die angeblichen Schutzgüter sind sowohl sprachlich als auch in ihrer Funktionalität weitgehend unbestimmt und in ihren Konturen unscharf. Die "Integrität des Sports", seine "ethisch-moralischen Grundwerte" oder aber die "Funktionsfähigkeit des Systems des Sports" sind keine verfassungsrechtlich legitimen Schutzgüter für den Einsatz des Strafrechts, sondern konturenarme, in weiten Teilen auch stark moralisierende und ethisierende "Universalrechtsgüter", die nicht geeignet sind, eine legitime verfassungsrechtliche Grundlage für die Schaffung neuer Straftatbestände zu bieten. Die Aufladung dieser angeblichen Schutzgüter mit moralischen und ethischen Kategorien lässt überdies die Grenze zwischen der Ahndung strafwürdigen Verhaltens mit dem Ziel des Rechtsgüterschutzes einerseits und der Sanktionierung moralisch verwerflichen oder unethischen Verhaltens andererseits in bedenklicher Weise verschwimmen. Das Strafrecht dient ausschließlich dem Rechtsgüterschutz und nicht dazu, ethisch-moralische Wertvorstellungen der Bevölkerung zu fördern. Moralität und Legalität sind strikt voneinander zu trennen.
Ähnlich skeptisch sehen BRAK (Stellungnahme-Nr. 8/2016) und DAV (Stellungnahme-Nr. 12/2016) den Referentenentwurf zur S...