Dem Begriff "nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis" können Inhalt und Zweck des Rechtsinstituts nicht ohne Weiteres entnommen werden. Ihm lässt sich auf den ersten Blick lediglich entnehmen, dass es um das Verhältnis von Nachbarn untereinander geht. Fraglich ist schon, was der Wortbestandteil "Gemeinschaft" bedeuten soll: Meint das die Gemeinschaft der Nachbarn, zu der nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht nur die Eigentümer, sondern alle Bewohner benachbarter Grundstücke gehören, oder ist die Gemeinschaft i.S.d. §§ 741 ff. BGB gemeint? Letzteres liegt eher fern. Verstärkt wird die Unsicherheit an der inhaltlichen Bedeutung des Begriffs dadurch, dass er nicht einheitlich gebraucht wird. In der Rechtsprechung des BGH ist auch die Rede von dem "nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" (z.B. BGHZ 88, 344, 351; 113, 384, 389 sowie NJW-RR 2012, 1160, 1162) und dem "nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis" (NJW 2009, 3787, 3788); in der Literatur wird vereinzelt von einem "Nachbarschaftsverhältnis" gesprochen (Maier/Bornheim JA 1995, 978 f.).
Unabhängig von dieser unterschiedlichen Begrifflichkeit besteht jedoch Einigkeit darüber, welchen Inhalt und Zweck das Rechtsinstitut des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses hat. Der BGH hat hierzu in jahrzehntelanger Rechtsfortbildung die folgenden heute allgemein anerkannten Grundsätze herausgearbeitet (ZfIR 2019, 142, 144):
Zitat
"Die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn haben insbesondere durch die Vorschriften der §§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Auch auf sie ist zwar der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) anzuwenden; daraus folgt für die Nachbarn eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, deren Auswirkungen auf den konkreten Fall unter dem Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zusammengefasst werden. In der Regel begründet der Gedanke von Treu und Glauben aber im Rahmen eines nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses keine selbstständigen Ansprüche, sondern wirkt sich hauptsächlich als bloße Schranke der Rechtsausübung aus. Sie kann den Grundstückseigentümer im Einzelfall allerdings auch zu positivem Handeln verpflichten. Eine aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis folgende selbstständige Verpflichtung ist mit Rücksicht auf die nachbarrechtlichen Sonderregelungen jedoch eine eng begrenzte Ausnahme und kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwingend geboten erscheint. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Ausübung gewisser aus dem Eigentum fließender Rechte ganz oder teilweise unzulässig werden oder dem Grundstücksnachbarn eine selbstständige Verpflichtung auferlegt werden. Das Rechtsinstitut darf nicht dazu dienen, die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil zu verkehren".
Das ist eine klare Aussage: Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis verpflichtet die Nachbarn (gemeint sind die Grundstückeigentümer, die Grundstücksbesitzer und sonstige Nutzungsberechtigte des Grundstücks, s. Lemke, in: Prütting/Wegen/Weinreich, a.a.O., § 903 Rn 14) nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zur gegenseitigen Rücksichtnahme und beschränkt sie in der Ausübung ihrer Rechte aus § 903 S. 1 BGB. Es kann also – ggf. zeitlich beschränkte – Duldungspflichten des beeinträchtigten Nachbarn begründen. Der andere Nachbar, der durch eine erlaubte Maßnahme das Nachbargrundstück beeinträchtigt, kann – ebenfalls aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses – zur rechtzeitigen Ankündigung des Beginns der Maßnahme verpflichtet sein, damit der Nachbar Vorkehrungen gegen die Beeinträchtigung treffen kann (BGH, NJW-RR 2012, 1160, 1162).