In der vorstehend wiedergegebenen Definition des BGH (oben unter III. 1.) heißt es, dass das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis keine selbstständigen Ansprüche begründet. Vielmehr werden die Pflicht der Grundstücksnachbarn zur gegenseitigen Rücksichtnahme und eine daraus folgende Duldungspflicht des beeinträchtigten Nachbarn in den Vordergrund gestellt. Das entspricht den Vorstellungen, welche schon die Väter des Rechtsinstituts hatten. Das Reichsgericht (RGZ 167, 14, 23) hatte in einem Vertiefungsfall (§ 909 BGB) dazu ausgeführt:
Zitat
"Der Gedanke des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses ist wertvoll für die Anwendung der nachbarrechtlichen Gesetzesvorschriften. Er darf den Richter aber nicht dazu führen, die bestehende gesetzliche Regelung außeracht zu lassen. Vielmehr muss diese immer die Grundlage der Entscheidung bleiben. (...) So ist es [das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis] auch beachtlich für die Anwendung des § 909 BGB, insbesondere für den Inhalt des darauf zu gründenden Anspruchs (...); aber die Grundlage des in solchem Falle möglichen Anspruchs bleibt doch eben diese Gesetzesbestimmung".
Im Grundsatz dieselbe Linie hat der BGH verfolgt, indem er die Ansicht vertreten hat, dass das auf Treu und Glauben fußende Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme der Nachbarn untereinander nicht ohne Weiteres die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1004 BGB und damit die Anspruchsgrundlage ersetzen kann (NJW 1995, 2633 ff.). Noch deutlicher heißt es in einer anderen Entscheidung, dass das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis neben den besonderen Nachbarrechtsvorschriften keine selbstständigen Ansprüche begründet und keine selbstständige Grundlage für Rechte und Pflichten bildet, vielmehr unter den Grundstücksnachbarn nur die allgemeinen Ansprüche aus dem Eigentum und die allgemeinen Verkehrssicherungspflichten bestehen (BGHZ 42, 374, 377 f.).
Allerdings ist der BGH den vom Reichsgericht und von ihm selbst zunächst eingeschlagenen Weg nicht strikt weitergegangen. Den Grundstein für eine Erweiterung der rechtlichen Folgen einer Anwendung der Grundsätze vom nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses hat er bereits in einem Urteil vom 29.4.1977 gelegt, in welchem er die Ansicht vertreten hat, dass die einem Grundstückseigentümer aus der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben seinem Nachbarn gegenüber obliegende Rücksichtnahme sich u.U. nicht in einem Unterlassen erschöpft, sondern ihn sogar zum positiven Handeln verpflichten kann (BGHZ 68, 350, 354). In dem bereits genannten Urteil vom 7.7.1995 (NJW 1995, 2633 ff.) wird dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis die rechtliche Qualität einer Anspruchsgrundlage lediglich für den Regelfall abgesprochen. Auch heißt es dort, dass die Schranke der Rechtsausübung den Grundstückseigentümer zwingen kann, eine bestimmte eigene Nutzung seines Grundstücks zu unterlassen oder eine bestimmte Nutzung seines Grundstücks durch den Nachbarn zu dulden. In jüngerer Zeit wurde die Begründung von selbstständigen Ansprüchen unter dem Gesichtspunkt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses ebenfalls lediglich "in der Regel" verneint (ZMR 2013, 395, 396). Diese Ausweitung der Rechtsfolgen einer Anwendung der Grundsätze vom nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis hin zu einer selbstständigen Anspruchsgrundlage hat ihren Niederschlag auch in der Definition von Inhalt und Zweck des Rechtsinstituts gefunden. Heute bejaht der BGH die Möglichkeit einer Pflicht des Grundstückseigentümers zu einem positiven Handeln und spricht von einer aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis folgenden selbstständigen Verpflichtung (ZfIR 2019, 142, 144).
Hinweis:
Damit wird – bewusst oder unbewusst? – das Tor für weitergehende Rechtsfolgen als die bloße Duldungspflicht des betroffenen Grundstückseigentümers weit aufgestoßen. Ausweitungen, die es auch schon früher gegeben hatte, indem von einem "eingeschränkten Unterlassungsanspruch" die Rede war, den das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis gewähren könne (BGHZ 113, 384, 389), sind heute "salonfähig".
Mag die Grenze zwischen einer Duldung und einem positiven Tun manchmal fließend sein (so MüKo-BGB/Brückner, 7. Aufl., § 903 Rn 40), so ist doch nicht hinweg zu diskutieren, dass eine Handlungspflicht des betroffenen Grundstückseigentümers aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses auf einem Anspruch beruht, der dem Nachbarn zusteht. Dementsprechend hat der BGH einen auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis gestützten Anspruch eines Grundstückseigentümers gegen einen Nachbarn auf Beseitigung von Bäumen, die auf dem Nachbargrundstück in einer Entfernung von ca. 10 m stehen und das Grundstück verschatten, grundsätzlich für möglich gehalten (NJW-RR 2015, 1425, 1426).
Aber es ist anzuerkennen, dass der BGH trotz der Erweiterung der aus dem Rechtsinstitut herzuleitenden Rechtsfolgen bemüht ist, ein Ausufern in Richtung "Allheilmittel" für die Lösung nachbarlicher Konflikte zu verhindern. Er betont nämlich ständig, dass nur ausnahmsweise ein Anspr...