Die vorstehend (s. 5.) beispielhaft zitierte Rechtsprechung zeigt, dass das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis vielfach als Anspruchsgrundlage für den durch Handlungen oder Zustände auf dem Nachbargrundstück beeinträchtigten Grundstückseigentümer herhalten musste. Das überrascht. Denn schon das Reichsgericht hat – wie aufgezeigt – betont, dass die gesetzliche Regelung auch unter dem Gesichtspunkt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses die Anspruchsgrundlage bleiben müsse. Das hat – ebenfalls wie aufgezeigt – der BGH übernommen und mehrfach darauf hingewiesen, dass das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis grundsätzlich keine selbstständigen Ansprüche begründe, sondern sich regelmäßig als bloße Schranke der Rechtsausübung auswirke.
Die durch den Gebrauch der Worte "grundsätzlich" und "regelmäßig" mögliche Öffnung für Ausnahmen von der Regel war offensichtlich gewollt. In einigen Entscheidungen hat der BGH sich denn auch nicht an den Grundsatz gehalten, dass das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis keine Ansprüche gewährt, sondern Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche direkt auf das Rechtinstitut gestützt. Das kann dem Umstand geschuldet sein, dass es in diesem Bereich immer um Treu und Glauben (§ 242 BGB) und einen darauf fußenden gerechten Interessenausgleich geht. Der mag sich in einzelnen Fällen ohne die Anerkennung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses als Anspruchsgrundlage nicht finden lassen. Aber es ist mehr als bedenklich, nämlich unzulässig, wenn der Grundsatz von Treu und Glauben dazu benutzt wird, ein noch so gerecht erscheinendes Ergebnis entgegen den gesetzlichen Regelungen zu begründen.
Eine derartige richterliche Rechtsfortbildung contra legem ist dem BGH sicher nicht vorzuwerfen. Aber es erscheint doch problematisch, wenn in dem Kiefernnadel-Fall u.a. wegen des Abfallens von Nadeln und Zapfen auf das Nachbargrundstück eine aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis folgende Verpflichtung des Grundstückseigentümers in Betracht gezogen wurde, seine Bäume auf Verlangen des Nachbarn zurückzuschneiden, obwohl die landesgesetzlich normierte Ausschlussfrist, innerhalb derer das Zurückschneiden verlangt werden konnte, abgelaufen war (BGHZ 157, 33, 37 f.; s. auch VersR 2018, 367, 368). Denn dasselbe Ergebnis hätte sich, auf gesicherter gesetzlicher Grundlage, aus einem Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB herleiten lassen: Der Eigentümer war Störer, obwohl die letzte Ursache für die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks ein natürliches Ereignis war, nämlich das Höhenwachstum der Bäume; diese zwar nur mittelbare, aber in adäquatem Zusammenhang mit der Störung stehende Ursache beruhte auf einer Handlung des Eigentümers, indem er das ungehinderte Höhenwachstum der Bäume zugelassen hatte (BGHZ 160, 232, 236). Das reicht bei einer Beeinträchtigung durch Naturereignisse allerdings nicht aus, um die Störereigenschaft des Baumeigentümers zu bejahen; hinzukommen müssen Sachgründe, ihm die Verantwortung für ein Geschehen aufzuerlegen; das ist der Fall, wenn sich aus der Art der Nutzung des Grundstücks, von dem die Einwirkungen ausgehen, eine "Sicherungspflicht", also eine Pflicht zur Verhinderung möglicher Beeinträchtigungen, ergibt (NJW-RR 2011, 739, 740). So war es in dem Kiefernnadel-Fall, weil die Bäume den landesrechtlich vorgeschriebenen Grenzabstand nicht eingehalten hatten. Der Ablauf der landesrechtlich normierten Ausschlussfrist änderte nichts an der Störereigenschaft des Eigentümers und stand Abwehransprüchen aus § 1004 BGB nicht entgegen (ebenso BGH NJW 2004, 1035, 1036; ZMR 2013, 395; s. auch Wenzel, NJW 2005, 241 f.).
Für noch problematischer halte ich es, dass der BGH kürzlich einen auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis gestützten und auf die Beseitigung von ca. 25 m hohen Bäumen, die in einer Entfernung von mehr als dem Doppelten des landesgesetzlich vorgeschriebenen Abstands zu der Grenze des Nachbargrundstücks stehen und dieses verschatten, gerichteten Anspruch geprüft und nur wegen Fehlens einer ungewöhnlich schweren und nicht mehr hinzunehmenden Beeinträchtigung verneint hat (NJW-RR 2015, 1425, 1426). Dies ist geeignet, beim Leser den Eindruck zu erwecken, als solle am Ende dieser Entscheidung die zuvor mit ausführlicher Begründung verteidigte Ansicht, dass negative Einwirkungen wie der Entzug von Licht nicht nach §§ 906 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 1004 BGB abgewehrt werden können, relativiert werden, weil das Ergebnis in letzter Konsequenz (bei ungewöhnlich schweren und nicht mehr hinzunehmenden Beeinträchtigungen) ungerecht erscheint.
Wenn das gewollt war, hätte es sich angeboten, den Entzug von Licht in Form des Schattenwurfs aus dem Bereich der nicht abwehrbaren negativen Einwirkungen herauszunehmen. Denn Schatten, der von Bäumen auf ein benachbartes Grundstück fällt, lässt sich zwanglos zu den "ähnlichen Einwirkungen" i.S.v. § 906 Abs. 1 S. 1 BGB zählen (Lemke, in: Prütting/Wegen/Weinreich, a.a.O., § 903 Rn 5).
Wenn die Relativierung nicht gewollt gewesen sein sollte, b...