Die gesetzlichen Regelungen des Nachbarrechts können nicht sämtliche möglichen Konflikte zwischen Eigentümern im Hinblick auf die Nutzung ihrer benachbarten Grundstücke erfassen. Für einen sachgerechten Interessenausgleich ist es erforderlich, im Einzelfall weitergehende Duldungs- und Unterlassungspflichten zu statuieren. Das geschieht mit Hilfe des Rechtsinstituts des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses. Dieses ist auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts zurückzuführen, das schon im Jahr 1883 für die Anwendung des im Gebiet des damaligen Großherzogtums Baden seinerzeit geltenden französischen Zivilrechts zu der Erkenntnis kam, dass die Absolutheit der beiderseitigen Eigentumsrechte von Grundstücknachbarn der Anerkennung eines im Gesetz nicht unmittelbar geregelten Unterlassungsanspruchs gegenüber rechtswidrigen Immissionen nicht entgegensteht. Zur Begründung dieser Ansicht hat das Reichsgericht (RGZ 11, 341, 343) anschaulich ausgeführt:
Zitat
"Gerade weil jeder Grundeigentümer das gleiche absolute Recht zur Benutzung seines Grundstücks hat, müssen sich die Nachbarn gegenseitig Rücksicht tragen, indem der eine das Erträgliche sich gefallen läßt und der andere sich solcher Handlungen auf seinem Grundstücke enthält, welche in unstatthafter Weise auf das Eigentum des anderen einwirken".
Später, in der Gutehoffnungshütte-II-Entscheidung, hat das Reichsgericht bei der Prüfung von § 906 BGB den Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses gebraucht, in welchem die Nachbarn aufeinander Rücksicht nehmen müssen (RGZ 154, 161, 165). Der BGH hat ihn in Anlehnung an diese Rechtsprechung schon früh übernommen (LM BGB § 903 Nr. 1) und ständig weiterentwickelt (z.B. ZfIR 2019, 142, 144).
1. Inhalt und Zweck
Dem Begriff "nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis" können Inhalt und Zweck des Rechtsinstituts nicht ohne Weiteres entnommen werden. Ihm lässt sich auf den ersten Blick lediglich entnehmen, dass es um das Verhältnis von Nachbarn untereinander geht. Fraglich ist schon, was der Wortbestandteil "Gemeinschaft" bedeuten soll: Meint das die Gemeinschaft der Nachbarn, zu der nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht nur die Eigentümer, sondern alle Bewohner benachbarter Grundstücke gehören, oder ist die Gemeinschaft i.S.d. §§ 741 ff. BGB gemeint? Letzteres liegt eher fern. Verstärkt wird die Unsicherheit an der inhaltlichen Bedeutung des Begriffs dadurch, dass er nicht einheitlich gebraucht wird. In der Rechtsprechung des BGH ist auch die Rede von dem "nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" (z.B. BGHZ 88, 344, 351; 113, 384, 389 sowie NJW-RR 2012, 1160, 1162) und dem "nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis" (NJW 2009, 3787, 3788); in der Literatur wird vereinzelt von einem "Nachbarschaftsverhältnis" gesprochen (Maier/Bornheim JA 1995, 978 f.).
Unabhängig von dieser unterschiedlichen Begrifflichkeit besteht jedoch Einigkeit darüber, welchen Inhalt und Zweck das Rechtsinstitut des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses hat. Der BGH hat hierzu in jahrzehntelanger Rechtsfortbildung die folgenden heute allgemein anerkannten Grundsätze herausgearbeitet (ZfIR 2019, 142, 144):
Zitat
"Die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn haben insbesondere durch die Vorschriften der §§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Auch auf sie ist zwar der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) anzuwenden; daraus folgt für die Nachbarn eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, deren Auswirkungen auf den konkreten Fall unter dem Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zusammengefasst werden. In der Regel begründet der Gedanke von Treu und Glauben aber im Rahmen eines nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses keine selbstständigen Ansprüche, sondern wirkt sich hauptsächlich als bloße Schranke der Rechtsausübung aus. Sie kann den Grundstückseigentümer im Einzelfall allerdings auch zu positivem Handeln verpflichten. Eine aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis folgende selbstständige Verpflichtung ist mit Rücksicht auf die nachbarrechtlichen Sonderregelungen jedoch eine eng begrenzte Ausnahme und kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwingend geboten erscheint. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Ausübung gewisser aus dem Eigentum fließender Rechte ganz oder teilweise unzulässig werden oder dem Grundstücksnachbarn eine selbstständige Verpflichtung auferlegt werden. Das Rechtsinstitut darf nicht dazu dienen, die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil zu verkehren".
Das ist eine klare Aussage: Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis verpflichtet die Nachbarn (gemeint sind die Grundstückeigentümer, die Grundstücksbesitzer und sonstige Nutzungsberechtigte des Grundstücks, s. Lemke, in: Prütting/Wegen/Weinreich, a.a.O., § 903 Rn 14) nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zur gegenseitigen Rücksichtnahme und beschränkt sie in der ...