Sind Sie bereit für ein kleines Experiment? Gut, auf geht’s: Was ärgert, bedrückt oder nervt Sie gerade (Mehrfachnennungen sind möglich)? Denken Sie ruhig einen Moment darüber nach und schreiben Sie Ihr Ergebnis dann in knapper Form auf einen Zettel.
Was ist die Ursache Ihres Ärgers, Ihrer Niedergeschlagenheit oder Ihrer Gereiztheit? Bitte schreiben Sie Ihre Antworten in ein bis drei Sätzen ebenfalls auf den Zettel.
Schauen wir uns an, was Sie aufgeschrieben haben. Voilà, Ihre Stressliste. Vielleicht sieht sie so aus:
- Ärger über verlorenen Prozess – Ursache: Richter hat keine Ahnung, ist ungerecht, hat mich auf dem Kieker;
- niedergeschlagen wegen Rückenschmerzen – Ursache: Körper zickt und will nicht so, wie ich will, ich sollte mehr Sport treiben, komme aber nicht dazu;
- genervt über Kollege X – Ursache: X konkurriert ständig mit mir und will mir und anderen seine Überlegenheit beweisen.
Und jetzt kommt die entscheidende Frage: Lassen sich unfähige Richter, körperliche Schmerzen oder aggressive Kollegen komplett aus Ihrem Leben verbannen?
Eher nicht, oder? Sicher, Sie könnten unter Umständen die Berufungsinstanz bemühen, eine wirksame Methode gegen Rückenschmerzen lernen oder X in die Schranken weisen. Doch wir wissen alle: So oder so bleiben jede Menge Menschen und Dinge übrig, die nicht so sind, wie wir sie gerne hätten. Ständig wachsen neue nach.
Die nächste Frage: Geht es Ihnen besser, wenn Sie versuchen, alles, was Sie auf dieser Erde stört, zu eliminieren? Das ist ziemlich anstrengend, oder?
So ging es auch dem, der sich in grauer Vorzeit einen Dorn in den nackten Fuß getreten hatte und deshalb auf die Idee verfiel, die gesamte Welt – oder wenigstens den Teil, über den er zu gehen gedachte – komplett mit Leder bedecken zu lassen, auf dass sich nie wieder ein Dorn in seinen Fuß bohren möge. Glücklicherweise traf er, bevor er mit der Realisierung seines Vorhabens beginnen konnte, denjenigen, der gerade die Sandalen erfunden hatte und ihm ein Paar davon anpasste.
Was wäre das Äquivalent zu den maßgeschneiderten Sandalen im Leben eines gestressten Anwalts?
Es handelt sich um etwas, das nichts kostet und dass Sie immer dabei haben: Ihre Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen.
Bereits der Stoiker Epiktet wusste: "Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen". Und Buddha hat vor 2.500 Jahren erkannt: "Alles geht vom Geist aus".
Was heißt das praktisch? Weder ein Richter noch die Rückenschmerzen noch Kollege X sind in der Lage, Sie zu ärgern, zu beunruhigen oder zu nerven. Das alles bewirken Sie selbst mit Ihren Bewertungen, Ihren Fantasien, Ihrem Kopfkino.
Lassen Sie uns das erklären: Jeder kennt Kolleginnen und Kollegen, die sich über ein verlorenes Verfahren keinen Kopf machen. "Ja, das sind die Unengagierten, denen alles egal ist", sagen Sie jetzt vielleicht. Das mag hier und da zutreffen, aber es gibt auch welche, die sich die Maxime zu eigen gemacht haben: "Rege dich nicht über Dinge auf, die du nicht (mehr) ändern kannst."
Und die Rückenschmerzen? Stress ist deren Hauptursache. Fühlt man sich überlastet, verspannt man die Rückenmuskulatur. Macht man das ständig, fangen die Muskeln an zu schmerzen. Wie heilsam wäre es da – beispielsweise neben sanftem und wohltuendem Feldenkrais-Training – sich im wahrsten Sinne des Wortes mental ein ganzes Stück lockerer zu machen? Wer nicht dramatisiert ("Rechtsanwalt ist ein Stressberuf", "Die Rückenschmerzen werden nie wieder weggehen"), sondern sich körperlich und gedanklich regelmäßig entspannt ("Ob mein Beruf stressig ist, hängt in erster Linie von mir ab", "Ich lerne, meine Rückenmuskeln zu entkrampfen, dann vergehen die Schmerzen bald"), der wird seinen Rückenproblemen später dankbar sein, weil sie der Beginn eines gelassenen Lebens- und Arbeitsstils waren.
Auch der Kollege X zwingt Sie nicht, genervt zu sein. Er bietet vielleicht einen Anlass zur Gereiztheit, ruft diese jedoch nicht unmittelbar hervor. Denken Sie an die oben zitierten weisen Worte des Epiktet und des Buddha. Sobald Sie die mehr oder weniger hilflosen Bemühungen von X als das sehen, was sie sind (Stichwort "Profilneurose"), können Sie gelassener damit umgehen. Wie sagte Karl Valentin: "Alles hat eine positive, eine negative und eine komische Seite". Menschen, die dauernd versuchen, einem überlegen zu sein, machen sich bei genauerer Betrachtung lächerlich.
Noch ein Wort zum "Maßschneidern" Ihrer emotionalen "Sandalen": Es geht nicht darum, dass Sie sich etwas einreden. Das wäre positives Denken "at it‘s worst". Es geht zwar um die Umstrukturierung der eigenen Gedanken und Bewertungen, aber immer mit dem Ziel einer spürbaren, wohltuenden Veränderung der eigenen Gefühle. Letzteres gelingt nur, wenn Sie wirksam auf Ihre eigenen Stressargumente erwidern. Eigentlich müsste Ihnen das leichtfallen. Argumentieren ist doch Ihr Metier. Widerlegen Sie den Unsinn, mit dem Sie sich unbewusst stressen. Der einen hilft vielleicht der Satz: "Niemand wird mich daran hindern, glücklich...