Liegt dringender Tatverdacht vor, ist in einem weiteren Schritt ist zu prüfen, ob einer der in § 112 StPO genannten Haftgründe vorliegt.
a) Fluchtgefahr
Der in der Praxis bei weitem häufigste Haftgrund ist die Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO (hat sich der Beschuldigte dem Zugriff der Ermittlungsbehörden bereits entzogen, greift § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Fluchtgefahr liegt vor, wenn es bei Würdigung aller Umstände des Falles wahrscheinlicher ist, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich ihm zur Verfügung halten wird (Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rn 17 m.w.N.).
Hier liegt eine häufige Fehlerquelle darin, dass zur Begründung der Fluchtgefahr – entgegen der insoweit klaren Vorgaben der obergerichtlichen Rechtsprechung (s. hierzu die zahlreichen Nachweise bei KK/Graf, § 112 StPO Rn 19) – oftmals allein auf die Straferwartung abgestellt wird, während weitere Umstände oberflächlich oder überhaupt nicht angesprochen werden. So beinhalten viele Haftbefehle lediglich floskelhafte Wendungen wie jene, dass der Beschuldigte im Falle der Verurteilung mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen habe und deshalb Fluchtgefahr bestehe.
Richtigerweise erfordert die Beurteilung der Fluchtgefahr aber die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insb. der Art der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat, des Vor- und Nachtatverhaltens, der Persönlichkeit des Angeklagten, seiner Lebensverhältnisse und seines Vorlebens, insb. auch seiner sozialen Kontakte (OLG Koblenz, Beschl. v. 7.6.2021 – 2 Ws 324/21).
Hinweis:
Wenngleich eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr allein nicht begründen kann, kommt ihr bei der Prüfung aber gleichwohl eine erhebliche Bedeutung zu. Von ihr geht nämlich ein nicht nur unerheblicher Fluchtanreiz aus, der im Einzelfall auch nach länger andauernder Untersuchungshaft deren Fortdauer rechtfertigen kann (BGH, Beschl. v. 21.12.2021 – AK 52/21 u. Beschl. v. 12.1.2022 – StB 40/21). Die Straferwartung ist dann Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und, käme er auf freien Fuß, wahrscheinlich flüchten (OLG Koblenz a.a.O.).
Gleichwohl dürfen die sozialen Bindungen, welche einem Fluchtanreiz entgegenstehen können, nicht schematisch als nachrangig bzw. unzureichend betrachtet werden. Lebt der Beschuldigte etwa zusammen mit seiner Freundin in einer gemeinsamen Wohnung und verfügt er überdies über eine feste Arbeitsstelle mit einem nicht unerheblichen Nettoeinkommen, kann auch bei einer Straferwartung von bis zu vier Jahren zumindest die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls in Betracht kommen (LG Halle, Beschl. v. 16.9.2021 – 3 Qs 503 Js 6064/21).
Insbesondere einem festen Aufenthaltsort kommt regelmäßig erhebliche Bedeutung zu. Dies gilt auch dann, wenn es an einem Wohnsitz i.S.d. § 7 BGB fehlt, etwa weil der Beschuldigte in einer Asylbewerberunterkunft lebt. Es reicht aus, wenn er sich an einem der Justiz bekannten Ort aufhält und dort zuverlässig kontaktiert werden kann (OLG Hamburg, Beschl. v. 11.12.2015 – 1 Ws 168/15; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 26.10.2021 – 12 Qs 75/21).
Hinweis:
Dennoch darf sich die Begründung eines Rechtsbehelfs nicht auf den Vortrag beschränken, dass der Beschuldigte einen festen Wohnsitz in Deutschland habe. Dies gilt insb., wenn er über einen konkreten Hinwendungsort im Ausland verfügt (z.B. bei dort lebenden nahen Angehörigen, vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.2021 – StB 38/21 u. Beschl. v. 21.12.2021 – AK 52/21; OLG Koblenz, Beschl. v. 7.6.2021 – 2 Ws 324/21) oder wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass er tief ins kriminelle Milieu verstrickt ist oder einer Organisation angehört, auf deren Strukturen er zurückgreifen und mit deren (auch finanzieller) Hilfe er leicht untertauchen könnte (vgl. BGH, Beschl. v. 30.11.2021 – AK 50/21).
Wenngleich ein konkreter Hinwendungsort im Ausland oftmals geeignet sein wird, die Fluchtgefahr zu bejahen, muss doch darauf geachtet werden, dass eine Ausländereigenschaft allein die Anordnung der Untersuchungshaft noch nicht rechtfertigt. Vielmehr muss auch hier differenziert werden: Kann der Beschuldigte in seinem Heimatland problemlos bei Verwandten oder Bekannten unterkommen (BGH, Beschl. v. 21.12.2021 – AK 52/21) oder hat er, ggf. auch gegenüber den Ausländerbehörden, bereits in der Vergangenheit versucht, sich staatlichen Verfahren zu entziehen (Verwendung von Falschpersonalien usw.), wird der Haftgrund regelmäßig naheliegen. Gleiches gilt, wenn er sich tatsächlich nicht unter seiner Meldeanschrift aufhielt (BGH, Beschl. v. 30.11.2021 – AK 50/21).
Anders kann es sich hingegen verhalten, wenn der Beschuldigte seit langer Zeit in der Bundesrepublik Deutschland lebt und hier privat und/oder beruflich fest verwurzelt ist (nicht aber, wenn er zu im Ausland lebenden Angehörigen engen Kontakt pflegt, BGH, Beschl. v. 16.12.2021 – StB 38/21). Auch dürften aner...