Neben dem dringenden Tatverdacht und dem Haftgrund hat das Gericht immer auch zu prüfen, ob nicht mildere Maßnahmen in Betracht kommen, mit denen der Zweck der Untersuchungshaft auch ohne deren Vollzug erreicht werden kann. Dies ergibt sich aus § 116 StPO. Die Norm ist eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und regelt, unter welchen Voraussetzungen (je nach Haftgrund) der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt kann.
Die Vorschrift des § 116 StPO muss die Verteidigung unbedingt in ihre Erwägungen einbeziehen, lässt sich doch mit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls das primäre Ziel des Mandanten, nämlich die Freilassung, auch in Fällen erreichen, in denen dringender Tatverdacht und Haftgrund nicht erfolgreich in Abrede gestellt werden können. Selbst wenn primär die Aufhebung des Haftbefehls angestrebt wird, sollte daher immer hilfsweise als „Plan B” die Außervollzugsetzung beantragt werden.
Hinweis:
Erscheint eine Aufhebung höchstwahrscheinlich nicht erreichbar, kann es sich im Einzelfall ausnahmsweise anbieten, lediglich die Außervollzugsetzung des Haftbefehls zu beantragen. Ein derartiges Vorgehen stößt mitunter auf weniger Widerstand als der Versuch, den Haftbefehl insgesamt in Wegfall zu bringen. Auch sollte die Verteidigung etwaige Signale der StA wie etwa die nicht ganz seltene Anmerkung, man könne womöglich „mit einer Außervollzugsetzung leben”, aufgreifen.
Die Außervollzugsetzung kommt nur gegen Auflagen und/oder Weisungen in Betracht. Diese dürfen zwar im Einzelfall von geringfügiger Natur sein, ein gänzlicher Verzicht ist jedoch gesetzeswidrig (Meyer-Goßner/Schmitt, § 116 Rn 5). Dies hat für die Verteidigung zur Folge, dass bereits bei der Vorbereitung des Haftprüfungsantrags geprüft werden muss, welche Auflagen in Betracht kommen bzw. was der Beschuldigte insoweit zu leisten vermag.
Wird der Haftbefehl auf Fluchtgefahr gestützt, ist insb. zu klären, ob die Leistung einer Sicherheit gem. § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StPO realisiert werden kann. Die Sicherheitsleistung muss nicht durch den Beschuldigten selbst, sondern kann auch durch einen anderen gestellt werden. Als Steller der Sicherheit kommen daher insb. Familienangehörige in Betracht. Den in diesen Fällen mitunter anzutreffenden Einwand, eine Sicherheitsleistung durch Angehörige lasse den Fluchtanreiz nicht entfallen, da es sich nicht um eigenes Geld des Beschuldigten handele, kann die Verteidigung mit dem Hinweis auf die obergerichtliche Rechtsprechung entkräften, wonach der Umstand, dass Angehörige die Kaution stellen, ein zusätzlich stabilisierendes Moment darstellt, das den in der hohen Straferwartung liegenden Fluchtanreiz mildert (OLG Hamm, Beschl. v. 17.6.2002 – 2 Ws 228/02; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 4.10.2010 – 1 Ws 238/10).
Hinweis:
Die Sicherheitsleistung durch Dritte wird als ausreichendes milderes Mittel akzeptiert, wenn aufgrund der Persönlichkeit des Beschuldigten und seiner Beziehungen zu dem Sicherungsgeber davon ausgegangen werden kann, er werde diesen nicht dadurch schädigen, dass er den Verfall der Sicherheit herbeiführt (KK/Graf, § 116a StPO Rn 3). Dies wird bei engen Angehörigen regelmäßig naheliegen. Kommen dagegen entfernte Verwandte oder Freunde als Sicherungsgeber in Betracht, muss zu deren Beziehungen zum Beschuldigten ausführlich vorgetragen werden.
Ist die Außervollzugsetzung des Haftbefehls einmal erreicht, besteht ein relativ hoher Schutz gegen einen erneuten Vollzug der Untersuchungshaft, sofern der Beschuldigte sich an die ihm erteilten Auflagen hält und keine Fluchtvorbereitungen trifft oder sich auf andere Weise zeigt, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war (in diesen Fällen greifen § 116 Abs. 4 Nr. und Nr. 2). Verhält er sich beanstandungsfrei, kommt eine abermalige Invollzugsetzung nur nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO in Betracht.
Hierfür stellt die obergerichtliche Rechtsprechung hohe Hürden auf, die Vorschrift ist eng auszulegen. Dies bedeutet regelmäßig, dass bei unveränderter Sachlage die Haftverschonung nicht widerrufen werden kann (BVerfG, Beschl. v. 17.12.2020 – 2 BvR 1787/20 u. Beschl. v. 8.7.2021 – 2 BvR 575/21; OLG München, Beschl. v. 1.3.2021 – 3 Ws 140/21; s. hierzu auch Burhoff/Hillenbrand, HV, Rn 2062 ff.). Dies gilt auch bei der Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe.
Eine solche Strafe rechtfertigt die neuerliche Inhaftierung nur, wenn ihre Höhe erheblich von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr hierdurch ganz wesentlich erhöht, es sei denn dem Angeklagten stand die Möglichkeit einer für ihn nachteiligen Änderung der Prognose stets vor Augen und er kam gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nach (KG, Beschl. v. 29.10.2021 – 2 Ws 114/21). Zudem verlangt das BVerfG nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Angeklagte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung ausging (BVerfG, a.a.O.), was das Tatgericht vor ganz erhebliche Schwierigkeiten s...