1. Pflicht zur erneuten Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM)
Der bei der Beklagten beschäftigte Kläger war in den Kalenderjahren 2017 bis 2019 jeweils mehr als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig. Auf Veranlassung der Beklagten führten die Parteien Anfang März 2019 ein Gespräch zur Durchführung eines bEM. Die Beklagte kündigte sodann durch Schreiben vom 26.2.2020 aufgrund der Krankheitszeiten des Klägers das Arbeitsverhältnis. Zwischen dem bEM-Gespräch im März 2019 und dem Zugang der Kündigung war der Kläger erneut an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank. Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die krankheitsbedingte Kündigung, da er diese für sozial nicht gerechtfertigt hält. Die Klage war in allen drei Instanzen erfolgreich.
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG (s. etwa vom BAG, Urt. v. 21.11.2018 – 7 AZR 394/17, NZA 2019, 309 m.w.N.) ist eine Kündigung nicht i.S.v. § 1 Abs. 2, S. 1 KSchG durch Krankheit „bedingt”, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Mildere Mittel können insb. die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer auf einem anderen – ihrem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung der Arbeitgeber ergeben, Arbeitnehmern vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern. Arbeitgeber, die für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast tragen, können sich zwar im Kündigungsschutzprozess grds. zunächst auf die Behauptung beschränken, für die Arbeitnehmer bestehe keine andere – ihrem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. Waren Arbeitgeber jedoch gem. § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und sind sie dieser Verpflichtung nicht oder nicht ordnungsgemäß nachgekommen, sind sie darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die Durchführung des bEM konkretisiert damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Hinweis:
Die objektive Nutzlosigkeit eines bEM kann allerdings nicht allein dadurch belegt werden, dass Arbeitnehmern eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 SGB VI) bewilligt wurde (so aber: Salamon/Maaß, NZA 2022, 384, 388): Das Zusprechen einer solchen Rente besagt nur etwas über den zeitlichen Umfang der verbliebenen Leistungsfähigkeit der Versicherten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts. Sie schließt nach dem Gesetzeswortlaut weder eine bis zu dreistündige tägliche Tätigkeit noch eine längere tägliche Beschäftigung zu vom Regelfall abweichenden günstigeren Arbeitsbedingungen aus. Überdies kann eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auch dann bewilligt werden, wenn den Versicherten eine Teilzeitarbeit von unter sechs Stunden täglich möglich, der übliche Arbeitsmarkt für eine solche aber verschlossen ist (sog. Arbeitsmarktrente). Schließlich hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der nach § 96a SGB VI in bestimmten Grenzen bestehenden Hinzuverdienstmöglichkeiten selbst dann, wenn er dem Arbeitnehmer nur noch eine Tätigkeit in zeitlich geringem Umfang anbieten kann, keine Veranlassung anzunehmen, eine solche Weiterbeschäftigung sei diesem von vornherein unzumutbar (BAG, Urt. v. 13.5.2015 – 2 AZR 565/14, NZA 2015,1249 Rn 32).
An dieser o.a. Rechtsprechung hält das BAG in der hier besprochenen Entscheidung vom 18.11.2021 (2 AZR 138/21, NZA 2022, 253 = NJW 2022, 889) fest (s. Rn 12 f. der Gründe, zu dem Urt. s. etwa Salamon/Maaß, NZA 2022, 384; zur krankheitsbedingten Kündigung im Licht des bEM s. auch Stein, NZA 2020,753). Es führt ergänzend aus, dass dann, wenn Arbeitgeber nicht gänzlich davon abgesehen haben, ein bEM anzubieten, ihnen dabei oder bei der weiteren Durchführung jedoch Fehler unterlaufen sind, es für den Umfang ihrer Darlegungslast von Bedeutung ist, ob der Fehler Einfluss auf die Möglichkeit hatte oder hätte haben können, Maßnahmen zu identifizieren, die zu einer relevanten Reduktion der Arbeitsunfähigkeitszeiten von Arbeitnehmern hätten führen können. Dies kann etwa der Fall sein, wenn Arbeitnehmer gerade aufgrund der verfahrensfehlerhaften Behandlung durch den Arbeitgeber einer (weiteren) Durchführung des bEM nicht zugestimmt haben (Rn 16).
Das Gericht hat darüber hinaus entschieden, Arbeitgeber seien bei einer erneuten Erkrankung der Arbeitnehmer für mehr als sechs Wochen innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM grds. verpflichtet, wiederum ein bEM durchzuführen, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht ein Jahr vergangen ist. Das Gericht stellt für die Richtigkeit seiner Auslegung auf den Wortlaut des Gesetzestextes in § 167 SGB IX ab („innerhalb eines Jahres”) und zusätzlich auf den Sin...