Galbraith, einer der weltweit renommiertesten Nationalökonomen des 20. Jahrhunderts und Berater mehrerer US-Präsidenten hat ein Werk mit dem Titel "Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs – Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft" vorgelegt. Er führt darin aus, dass die herrschende Meinung und die Wirklichkeit ständig auseinanderklaffen. Letztlich komme es nur auf die Wirklichkeit an. Weiter ist er der Ansicht, dass auf keinem anderen Gebiet die wahren Verhältnisse derart verschleiert würden wie in der Ökonomie und Politik. Tatsächlich würden die Volkswirtschaftslehre, aber auch Wirtschafts- und politische Systeme ihre eigene Version der Wahrheit kultivieren (vgl. Galbraith, Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs, S. 27 f.). Rechtlich zulässige Irreführungen seien im Privatleben und im öffentlichen Diskurs üblich. Was sich im Leben durchsetze, sei nicht die Wahrheit, sondern die jeweils herrschende (intellektuelle) Mode und das finanzielle Eigeninteresse. Im Privatleben und öffentlichen Diskurs seien rechtlich zulässige Irreführungen weithin üblich, was aber als Tatsache nicht ausdrücklich anerkannt werde. Dadurch könnten diese Meinungen zu niemals hinterfragten "Wahrheiten" werden, wobei hier keine raffinierte Täuschungsabsicht im Spiel sei, sondern eine gleichsam natürliche, aufrichtige Ansicht, mithin eine schuldlose Irreführung oder ein schuldloser Betrug (vgl. Galbraith, a.a.O., S. 33 f.). Ein Beispiel sei die Umbenennung des Wirtschaftssystems. Der Begriff des "Kapitalismus" war seit der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht mehr salonfähig, so dass stattdessen vorwiegend der Begriff "Marktwirtschaft" verwendet werde. Dieser Begriff verschleiere jedoch die tatsächlichen Verhältnisse, denn es müsste von einem "System der Konzerne", mithin doch wiederum des Kapitals gesprochen werden (vgl. Galbraith, a.a.O., S. 39 ff.).
Das wirft die Frage auf, ob die o.g. Kernbeschreibung auch auf das Rechtsleben zutrifft, d.h. rechtlich zulässige Irreführungen und ein Auseinanderklaffen von herrschender Meinung und Wirklichkeit auch in der Rechtsprechung/Rechtswissenschaft anzutreffen sind, insbesondere, ob rhetorische Wendungen den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Wer diese Frage (law in action vs. law in books) stellt, muss sie bejahen. Es sollen hier nur zwei markante Beispiele dargestellt werden.
Die herrschende Meinung behauptet, dass die richterliche Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Beweisgrundlage aufbauen müsse, die die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit des Beweisergebnisses ergäbe. Bloße richterliche Vermutungen genügten für eine Beweisführung nicht. Diese Programmsätze werden in allen Kommentaren zu § 261 StPO und Lehrbüchern stereotyp wiedergeben. Das klingt auch gut, denn es erweckt den Anschein, als ob das Urteil nach (sinnvollen) objektiven Kriterien gefällt werde.
Kaum jemandem fällt aber auf, dass die als Beleg hierfür genannten Judikate mehr als zehn Jahre, größtenteils sogar mehr als 30 Jahre alt sind und der BGH ebenso das Gegenteil der herrschenden Auffassung judiziert, nämlich, dass die Unwahrscheinlichkeit des vom Tatrichter festgestellten Geschehens gerade nicht zur Rechtsfehlerhaftigkeit führt (BGH NStZ 2001, 491). Als einer der wenigen hat Widmaier in jüngerer Vergangenheit festgehalten, dass die o.g. Programmsätze in der Wirklichkeit gerade nicht mehr bzw. nur selten vorkommen (vgl. Widmaier, Quo vadis Revision, StraFo 2010, 310, 316). Ebenso fällt es nur selten auf, dass die Rechtsprechung nicht definiert, was "objektiv hoch wahrscheinlich" ist, bzw. wie diese Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2. Aufl., Kap. 6 und 18), so dass dazu tatsächlich gar keine Aussage getroffen werden kann (Graf, StPO, 2. Aufl., § 261 Rn 18.5). Die herrschende Ansicht blendet damit die subjektiven Elemente der Rechtsfindung durch o.g. Programmsätze vollständig aus, was nach Lamprecht, dem langjährigen Spiegel-Korrespondenten bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes "die Lebenslüge der Juristen" (vgl. Lamprecht, Die Lebenslüge der Juristen, S. 9 ff.), nach dem von Galbraith beschriebenen Mechanismus freilich nicht bösgläubig, sondern als "gleichsam natürliche, aufrichtige Ansicht" erfolge, mithin nur eine schuldlose Irreführung sei.
Eine weitere Irreführung hat möglicherweise einen Höhepunkt erhalten, indem das BVerfG in einer Aufsehen erregenden Entscheidung, die aber das gesamte Entscheidungsfindungssystem ins Wanken bringen müsste, die Auffassung vertreten hat, dass es der richterlichen Unabhängigkeit eines Vorsitzenden eines Strafsenats des BGH obliege, selbst zu entscheiden, ob er die Akten liest. Zwar müsse er, wie jeder Beisitzer, vollständig und umfassend über den zu beurteilenden Fall informiert sein, aber er könne selbst entscheiden, wie er sich vollständig und umfassend informiere. Es sei seiner richterlichen Unabhängigkeit überlassen, ob die vollständige und umfassende Information durch eigene Aktenlektüre oder durch die mündliche E...