1. Mehrwertsteuersystemrichtlinie
Nach Art. 13 Abs. 1 Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28.11.2006 (ABl L 347 2006, 1, zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Behandlung von Gutscheinen vom 27.6.2016, ABl L 177 2016, 9, abgekürzt: Mehrwertsteuersystemrichtlinie – MwStSystRL) gelten juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige, soweit sie Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL sind juristische Personen des öffentlichen Rechts jedoch als Steuerpflichtige zu behandeln, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen im Wettbewerb mit privaten Wirtschaftsteilnehmern (so EuGH, Urt. v. 19.1.2017 – C-344/15, DStRE 2017, 366) führen würde.
Nach der EuGH-Rechtsprechung ist der Begriff „größere Wettbewerbsverzerrungen“ i.S.d. Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG (v. 17.5.1977, ABl 1977, L 145, 1, zum 1.1.2007 abgelöst durch Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL) dahingehend auszulegen, dass die Wettbewerbsverzerrungen „mehr als unbedeutend“ sein müssen (EuGH, Urt. v. 16.9.2008 – C-288/07, Isle of Wight Council u.a., BFH/NV 2009, 108, Ls. 3, Rn 76).
Unter Berücksichtigung von Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL und der dazu ergangenen EuGH-Rechtsprechung legten der BFH und die Finanzgerichte § 2 Abs. 3 UStG a.F. in ständiger Rechtsprechung (vgl. BFH v. 20.8.2009 – V R 70/05, BFH/NV 2009, 2077; v. 17.3.2010 – XI R 17/08, BFH/NV 2010, 2359; v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFHE 229, 416; v. 2.3.2011 – XI R 65/07, BFH/NV 2011, 1454; v. 10.11.2011 – V R 41/10, DStR 2012, 348; v. 1.12.2011 – V R 1/11, DStR 2012, 352; v. 13.2.2014 – V R 5/13, BFH/NV 2014, 1159; v. 5.11.2014 – XI R 42/12, BFH/NV 2015, 294) nur noch EU-rechtskonform aus.
2. Beispiele aus der Rechtsprechung
- Eine Gemeinde ist nach der Entscheidung des Sächsischen Finanzgerichts (v. 7.3.2013 – 6 K 221/12, ZKF 2013, 187) mit dem Betrieb einer Sport- und Freizeithalle als Unternehmerin tätig und erbringt umsatzsteuerpflichtige Tätigkeiten, wenn sie die Halle entgeltlich dem ortsansässigen Sportverein und der Nachbargemeinde für den Sportunterricht der dortigen Grundschule überlässt.
- Kann eine als einheitliche Leistung zu beurteilende Gesamtleistung aufgrund von militärischen Sicherheits- und Geheimhaltungsbestimmungen für einzelne Leistungsbestandteile nicht von einem privaten Unternehmer erbracht werden, so liegt nach dem Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 22.8.2013 (6 K 1961/09, EFG 2015, 771; Rev. eingelegt unter Az.: V R 48/14) keine Wettbewerbssituation vor, auch wenn andere Leistungsbestandteile für sich gesehen von privaten Unternehmern erbracht werden könnten.
- Erfolgt die Überlassung eines Freibads durch eine Stadt auf der Basis eines Pachtvertrags und damit einer privatrechtlichen Vereinbarung, übt die Stadt gemäß der Entscheidung des Sächsischen Finanzgerichts vom 16.10.2013 (2 K 1183/13, EFG 2014, 391) eine umsatzsteuerpflichtige wirtschaftliche Tätigkeit aus und unterhält einen Betrieb gewerblicher Art gem. § 2 Abs. 3 UStG unabhängig vom Bestehen einer Gewinnerzielungsabsicht und der Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr.
- Vermietet eine Gemeinde Standflächen bei einer Kirmesveranstaltung auf zivilrechtlicher Grundlage, handelt sie nach der Entscheidung des BFH vom 13.2.2014 (V R 5/13, BFH/NV 2014, 1159) als Unternehmerin.
- Errichtet eine juristische Person des öffentlichen Rechts eine Mehrzweckhalle und überlässt diese auf privatrechtlicher Grundlage an Vereine gegen eine nicht kostendeckende Nutzungspauschale (mit einem Kostendeckungsgrad von 12,03 %) im Rahmen des Erwachsenensports, handelt sie als Unternehmerin und ist zum Vorsteuerabzug aus den Herstellungskosten für die Mehrzweckhalle berechtigt (vgl. FG Baden-Württemberg v. 13.3.2015 – 9 K 2732/13, MwStR 2016, 213; Rev. wurde mit Urt. v. 28.6.2017 – XI R 12/15, DStR 2017, 1873 als unbegründet zurückgewiesen).
Eine Dienstleistung wird „gegen Entgelt“ erbracht, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht und die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (vgl. EuGH, Urt. v. 12.5.2016 – C-520/14, Gemeente Borsele, MwStR 2016, 492, Rn 24).
Der Umstand, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit zu einem Preis unter oder über dem Selbstkostenpreis ausgeführt wird, ist unerheblich, wenn es darum geht, einen Umsatz als „entgeltlichen Umsatz“ zu qualifizieren (BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, DStR 2017, 1873, Rn 33).
- Eine Landesärztekammer ist als juristische Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der sog. externen Qualitätssicherung Krankenhaus nach der Entscheidung des BFH (Urt. v. 10.2.2016 – XI R 26/13, BFH/NV 2016, 865) nicht unt...