a) Verhaltensänderung auch bei Abmahnung nicht zu erwarten, schwere Pflichtverletzung
Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11, NZA 2013, 954; v. 19.4.2012 – 2 AZR 381/10, NZA 2011, 1027; Binkert NZA 2016, 721, 722).
Bei Tätlichkeiten unter Arbeitskollegen bedarf es vor Ausspruch einer Kündigung grundsätzlich keiner Abmahnung. Liegen gewichtige, objektive Anhaltspunkte für eine erhebliche aktive Beteiligung des Arbeitnehmers an einer tätlichen Auseinandersetzung vor, darf sich der Arbeitgeber, der keine eigene Sachkenntnis hat, zunächst hierauf stützen. Unter einer solchen Voraussetzung ist es dem unmittelbar an dem Konflikt beteiligten Arbeitnehmer regelmäßig zumutbar, sich im Kündigungsrechtsstreit im Rahmen einer sekundären Vortragslast so weit wie möglich zum Anlass und zum Verlauf der tätlichen Auseinandersetzung zu erklären und ggf. seine Behauptung, er sei lediglich das Opfer der Auseinandersetzung geworden bzw. habe sich in Notwehr verteidigt, zu substantiieren (BAG, Urt. v. 18.9.2008 – 2 AZR 1039/06, DB 2009, 964; LAG Köln, Urt. 12.12.2017 – 4 Sa 291/17). Entscheidend bei der Feststellung der Entbehrlichkeit ist, dass durch das Fehlverhalten des Arbeitnehmers das Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragsparteien so nachhaltig erschüttert worden ist, dass es auch durch eine Abmahnung nicht wiederhergestellt werden kann (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 17.1.2013 – 19 W 1/13; Urt. v. 20.10.2000 – 19 U 86/00, NJW-RR 2001, 820; LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 24.10.2007 – 7 Sa 385/07).
Wie risikobehaftet die rechtssichere Beurteilung der ausreichenden Schwere der Pflichtverletzung in der Beratungspraxis ist, zeigt die vorgenannte Entscheidung des BAG vom 25.10.2012. Hier hatte der Zweite Senat entschieden, die außerordentliche Kündigung eines Chefarztes wegen – wenigen und kurzen – privaten Telefonaten im Operationssaal mit dem schnurlosen Handapparat seines Diensttelefons und/oder seinem Mobiltelefon während laufender Operationen sei ohne vorherige Abmahnung unverhältnismäßig, wenn der Arbeitgeber zuvor unter den gleichen Bedingungen dienstlich veranlasste Telefongespräche geduldet habe. Der auf dem Operationstisch liegende Patient hätte die Frage nach der Schwere der Pflichtverletzung aus der Sicht eines Laien mit Blick auf Leib und Leben sowie die verringerte Aufmerksamkeit und Konzentration seines Operateurs womöglich – auch mit Blick auf die vorherige Duldung – abweichend beurteilt.
Praxishinweis:
Als Lehre aus dem Fall gilt es also, den erheblichen Bewertungsspielraum der Arbeitsgerichte bei der Prüfung einer Abmahnung zur Kenntnis zu nehmen und in die eigenen Überlegungen und Strategien einzupreisen.
b) Pflichtverstoß im Vertrauensbereich
Zwar bedarf es einer Wiederholungsgefahr und damit einer Abmahnung nach Vertragspflichtverletzungen im Vertrauensbereich dann nicht, wenn das Vertrauen in den Arbeitnehmer unwiederbringlich zerstört wird, weil in diesem Fall bereits hierin die Prognose eines auch zukünftig belasteten Arbeitsverhältnisses begründet ist. Jedoch ist dieser Grundsatz durch die "Emmely"-Entscheidung (BAG, Urt. v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227; s. auch oben II.) wieder eingeschränkt. Hiernach wird eine für lange Jahre ungestörte Vertrauensbeziehung zweier Vertragspartner nicht notwendig schon durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört. Die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf dürfen bei der Interessenabwägung im Rahmen der Prüfung des wichtigen Grundes i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB berücksichtigt werden.
Je länger eine Vertragsbeziehung ungestört bestanden hat, desto eher kann die Prognose berechtigt sein, dass der dadurch erarbeitete Vorrat an Vertrauen durch einen erstmaligen Vorfall nicht vollständig aufgezehrt wird (BAG, Urt. v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09; Hessisches LAG, Urt. v. 24.1.2014 – 14 Sa 776/13). Auch diese Rechtsgrundsätze mögen angewandt auf den entschiedenen Einzelfall zutreffend und nachvollziehbar sein. In der Praxis und im Rechtsverkehr werfen sie aber mehr Fragen und Unsicherheiten auf, als dass sie Antworten und Rechtssicherheit geben. Im Recht der Abmahnung greift somit nicht nur ein Bewertungsspielraum, sondern es gilt in besonderem Maße auch die Lebenserfahrung: "Auf hoher See und vor Gericht bist du in Gottes Hand."