Beide Arbeitsvertragsparteien sollten sich in prozesstaktischer Hinsicht mit Blick auf die Risiken und Chancen eingehend mit der Abmahnung befassen.
1. Unerwünschter Kündigungsverzicht durch Abmahnung, Klageverbrauch, Verbot der Wiederholungskündigung
Der Arbeitgeber muss sich insoweit die Frage nach dem Sinn und der tatsächlichen Erforderlichkeit einer der Kündigung vorausgehenden Abmahnung zur Erreichung des angestrebten Ziels (= möglichst schnelle und wirtschaftliche Trennung vom Arbeitnehmer) stellen. Im Ausspruch einer Abmahnung ist regelmäßig der (konkludente) Verzicht auf das Recht zur Kündigung zu sehen. Der Arbeitgeber rügt das mit der Abmahnung beanstandete Verhalten und kündigt erst für den Fall der Wiederholung eines vergleichbaren Fehlverhaltens weitergehende arbeitsrechtliche Schritte an, woraus logisch der Kündigungsverzicht und der Verbrauch des Kündigungsgrundes abzuleiten sind. Abgemahnte Verhaltensmängel behalten nur dann rechtliche Bedeutung, wenn später weitere erhebliche Umstände eintreten oder bekannt werden, insbesondere der Arbeitnehmer weitere gleichartige Pflichtverletzungen begeht (BAG v. 15.3.2001 – 2 AZR 147/00, EzA § 626 BGB n.F. Nr. 185).
Etwa 85–90 % aller Kündigungsschutzverfahren in Deutschland enden mit einem Abfindungsvergleich, in dem kündigungsschutzrechtliche Risiken des Arbeitgebers, wie etwa die Wirksamkeit der Abmahnung, der als unzureichend erachtete Kündigungsgrund, ein Sonderkündigungsschutz, die fehlerhafte Betriebsratsanhörung, die schwierige Interessenabwägung und insbesondere das Verzugslohnrisiko kapitalisiert werden. Der Versuch, eine "mustergültige Abmahnung" zu erstellen und erst dann bei einem wiederholten Pflichtenverstoß nach ausreichender Bewährungszeit zu kündigen, mag zwar dem theoretisch anerkannten Prüfungsraster und dem Ultima-Ratio-Grundsatz vorbildlich entsprechen. In der Praxis kann es infolge des mit der Abmahnung verbundenen Zeitfensters bis zu einem erneuten gleichgelagerten Pflichtenverstoß aber bei Befolgung des "arbeitsrechtlichen Masterplans" schnell zu finanziellen Mehrbelastungen des Arbeitgebers kommen. Mues (ArbRB 2003, 336, 337) merkt zu dieser Fallgestaltung zutreffend an, dass es der Arbeitgeber und sein anwaltlicher Berater in dieser Situation wohl übersehen haben, dass die Abmahnung nur einer von mehreren Unsicherheitsfaktoren der Kündigung ist und deshalb keineswegs zwangsläufig zu einer sicheren und erfolgversprechenden Kündigungssituation führt.
Praxishinweis:
Aus taktischer Sicht des Arbeitgebers ist die Abmahnung deshalb im Regelfall (Ausnahmen bestätigen die Regel) nur dann sinnvoll, wenn er das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer fortsetzen und ihn tatsächlich zu einem einsichtigen, vertragsgerechtem Verhalten "erziehen" will. Aber diese Handlungsempfehlung gilt ebenfalls nur eingeschränkt, da auch eine berechtigte Abmahnung das Vertrauensverhältnis der Arbeitsvertragsparteien im Regelfall nachhaltig belastet und deshalb vom Arbeitgeber zu erwägen ist, ob nicht eine offene, deutliche "Ansage" und damit einhergehende Ermahnung das sanftere und bessere Mittel ist, um den (einsichtigen und grundsätzlich geschätzten) Arbeitnehmer wieder "auf Kurs zu bringen".
2. Entbehrlichkeit der Abmahnung
a) Verhaltensänderung auch bei Abmahnung nicht zu erwarten, schwere Pflichtverletzung
Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11, NZA 2013, 954; v. 19.4.2012 – 2 AZR 381/10, NZA 2011, 1027; Binkert NZA 2016, 721, 722).
Bei Tätlichkeiten unter Arbeitskollegen bedarf es vor Ausspruch einer Kündigung grundsätzlich keiner Abmahnung. Liegen gewichtige, objektive Anhaltspunkte für eine erhebliche aktive Beteiligung des Arbeitnehmers an einer tätlichen Auseinandersetzung vor, darf sich der Arbeitgeber, der keine eigene Sachkenntnis hat, zunächst hierauf stützen. Unter einer solchen Voraussetzung ist es dem unmittelbar an dem Konflikt beteiligten Arbeitnehmer regelmäßig zumutbar, sich im Kündigungsrechtsstreit im Rahmen einer sekundären Vortragslast so weit wie möglich zum Anlass und zum Verlauf der tätlichen Auseinandersetzung zu erklären und ggf. seine Behauptung, er sei lediglich das Opfer der Auseinandersetzung geworden bzw. habe sich in Notwehr verteidigt, zu substantiieren (BAG, Urt. v. 18.9.2008 – 2 AZR 1039/06, DB 2009, 964; LAG Köln, Urt. 12.12.2017 – 4 Sa 291/17). Entscheidend bei der Feststellung der Entbehrlichkeit ist, dass durch das Fehlverhalten des Arbeitnehmers das Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragsparteien so nachhaltig erschüttert worden ist, dass es auch durch eine Abmahnung nicht wiederhergestellt werden kann (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 17.1.2013 – 19 W 1/13; Urt. v. 20.10.2000 – 19 U 86/00, NJW-RR 2001, 820; LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 24.10.2007 – 7 Sa 385/07).
Wie risikobehaftet die rechtssichere Beurteilung der ausreichenden Schwere der Pflichtverletzung in der Beratungspraxis ist, zeigt die vor...