aa) Verstöße
Ein Anscheinsbeweis (hier bei einem Wendevorgang) kann auch bei einem berührungslosen Verkehrsunfall angenommen werden (LG Wuppertal NZV 2020, 595 [Gutt]; zum Anscheinsbeweis bei einem Kettenauffahrunfall OLG Koblenz NJW-RR 2021, 280). Der Anscheinsbeweis eines Vorfahrtsverstoßes (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO) ist erst dann erschüttert, wenn eine Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten feststeht, bei der zumindest die Möglichkeit besteht, dass er für den Wartepflichtigen im Zeitpunkt seines Anfahrentschlusses nicht erkennbar war. Der Nachweis einer solchen Geschwindigkeit obliegt dem Wartepflichtigen (LG Saarbrücken zfs 2021, 20). Den Wartepflichtigen, der in eine Vorfahrtstraße einbiegen möchte, trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, die es mit sich bringt, dass er sich auf den Vertrauensgrundsatz nur in eingeschränkter Weise berufen kann und mit einem verkehrswidrigen Verhalten des Vorfahrtberechtigten – von groben Verkehrsverstößen abgesehen – grds. rechnen muss (OLG Koblenz NZV 2021, 156 [Exter]). Wenn eine Engstelle vorliegt, die das gleichzeitige Passieren entgegenkommender Fahrzeuge unmöglich macht, muss eine Verständigung der beteiligten Fahrzeugführer darüber stattfinden, wer die Fahrt fortsetzen soll. Der Wartepflichtige muss ggf. auch durch Anpassung seiner Geschwindigkeit dem vorrangigen Gegenverkehr Rechnung tragen (OLG Schleswig zfs 2021, 19 m. Anm. Diehl = NZV 2021, 51 [Bachmor]). Der Begriff „Grundstück” i.S.d. § 9 Abs. 5 StVO umfasst alle nicht für den öffentlichen Verkehr bestimmten Grundflächen. Ein Feldweg ist dann als ein solches Grundstück einzustufen, wenn er allein deshalb nicht im öffentlichen Straßenverkehr gewidmet ist, weil er kurz nach der Einmündung durch ein Gatter abgesperrt ist. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zwischen dem Abbiegenden und dem folgenden Verkehr zu einer Kollision, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Unfall auf eine Verletzung der für den Abbiegenden gem. § 9 Abs. 5 StVO geltenden höchsten Sorgfaltsanforderungen beruht (OLG Oldenburg DAR 2021, 93; zum Abbiegen zweier Fahrzeuge hintereinander nach links auf eine Bundesstraße vgl. OLG Koblenz NJW-RR 2020, 977 = NZV 2020, 646 [Binz]). Hat sich ein Unfall im Rahmen des Einfädelns von der Beschleunigungsspur auf die Fahrbahn einer Kraftfahrstraße ereignet, spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfädelnden. Es kann gerechtfertigt sein, die von einem am Unfall beteiligten Lkw ausgehende Betriebsgefahr nicht durchschlagen zu lassen (OLG Hamm VRR 2/2021, 13 [Nugel]). Parken auf einem Parkplatzgelände zwei Pkw aus einander gegenüberliegenden Parktaschen jeweils rückwärts aus, hat sich jeder an § 1 Abs. 2 StVO i.V.m. § 9 Abs. 5 StVO zu orientieren. Kommt es bei derartigen Fahrmanövern mittig der Fahrgasse zur Kollision der Fahrzeuge, ist i.d.R. eine hälftige Schadensteilung angezeigt (LG Oldenburg NZV 2020, 648 [Bachmor]; Rechtsprechungsübersicht zu Parkplatzunfällen bei Bachmor SVR 2021, 6, 45).
bb) Quotenbildung und Mitverschulden
Kommt es beim Einfädeln auf die Autobahn zu einer Kollision mit einem auf dem rechten Fahrstreifen der Autobahn fahrenden Lkw, kann eine Haftungsquote von 100 zu 0 zulasten des einfädelnden Pkw angemessen sein. Das Einfädeln auf dem weiterführenden Fahrstreifen darf nach § 7 Abs. 4 StVO erst unmittelbar am Beginn der Verengung bzw. am Ende des Fahrstreifens erfolgen (OLG Celle NZV 2020, 590 [Lee]). Das Verschulden eines Mitfahrers wegen der Verletzung der Anschnallpflicht ist mit 1/3 auf Schadensersatzansprüche anzurechnen, wenn ein Fahrzeugführer während der Fahrt auf der Autobahn einschläft und der dadurch verursachte Verkehrsunfall zu tödlichen Verletzungen des Mitfahrers führt (OLG Koblenz NZV 2020, 528 [Hanke]). Zumindest im Alltagsradverkehr begründet das Nichttragen eines Helms nach wie vor kein Mitverschulden des verletzten Radfahrers. Eine allgemeine Verkehrsauffassung des Inhalts, dass Radfahren eine Tätigkeit darstellt, die generell derart gefährlich ist, dass sich nur derjenige verkehrsgerecht verhält, der einen Helm trägt, besteht weiterhin nicht (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603 m. Anm. Scholten = VRR 1/2021, 12 [Burhoff] = NZV 2021, 157 [Bachmor]).